Sterne für meine Leser*innen

Vor genau einem Jahr habe ich beschlossen, mit meinen Leser*innen per Gendersternchen zu kommunizieren. Nun bekomme ich Unterstützung von der Universität Wien.

Wie sensibel sich der Genderdiskurs zur Zeit anlässt, mag die Volksabstimmung vom kommenden Wochenende belegen. Musste es tatsächlich so weit kommen, dass ein ganzes Land für ein „Verbot der Diskriminierung der sexuellen Orientierung“ an die Urne muss? Bereits vor einem Jahr habe ich entschieden, in diesem meinem Blog nur noch per Gendersternchen zu kommunizieren, wenn alle geschlechtlichen Orientierungen mitgemeint sind (vgl. Blog vom 6. Februar 2019). Nun bekomme ich Sukkurs von der Universität Wien.

Wer hats erfunden? Die Österreicher! Soeben hat die Uni Wien neue Leitlinien für die interne Kommunikation erlassen. Schluss mit dem mühsamen grossen I, zum Beispiel in LeserInnen. Dieses sogenannte Binnen-I wird definitiv in die Verbannung geschickt. Auch die hilflose Formulierung „Frauen sind mitgemeint“, die wir häufig in Arbeiten und Berichten lesen müssen, wird ultimativ in die Wüste geschickt. Weg damit! Und ja, auch sogenannt neutrale Ausdrücke wie „Lesende“ oder „Studierende“ schaffen es nicht, die Geschlechtervielfalt sichtbar zu machen. Weg damit! Und nochmals „Weg damit!“ heisst es für langatmige und unkorrekte Bezeichnungen wie „Leserinnen und Leser“. Wo bleiben da die Menschen, die sich als nichtbinär verstehen? Ab sofort sollen, ja müssen die Mitarbeiter*innen der Universität Wien nur noch per Gendersternchen kommunizieren.

Persönliches Outing. Wie sensibel sich der Genderdiskurs bereits seit Jahren anlässt, mag (m)ein persönliches Beispiel illustrieren. Jahrelang war ich ein Kommunikations-Dozent an der Fachhochschule unter lauter Dozentinnen. Gegenwärtig bin ich Gastdozent an der Fachhochschule unter lauter Dozentinnen. Jahrelang habe ich an der Fachmittelschule fast ausschliesslich Studentinnen unterrichtet, und das ausschliesslich in den „weiblichen“ Fächern Sprache und Literatur. Glauben Sie mir, liebe Leser*innen, sowas färbt ganz gewaltig ab! Die sogenannt weiblichen Qualitäten – Weitwinkelperspektive statt Tunnelblick, Gefühlhaftes statt Rationales – gewinnen da in einem Mann unweigerlich die Oberhand. Als Mann ist man(n) heute Fussballer, Feuerwehrmann, Mineur, Bauarbeiter oder Kanalisationsreiniger. In diesen Berufen arbeiten noch echte Kerle. Aber ich! Ich gestehe: Ich liebe Sprache, ich liebe Literatur, ich liebe grosse Gefühle, ich liebe zauberhafte Romane, ich liebe Geschichten, ich liebe die Romantik, ich singe in einem Chor, der faktisch fast ausschliesslich aus Frauen besteht. Ich, das Gendersternchen.

Patriarchalische Sprache. Immer noch benutzt die deutsche Sprache den maskulinen Plural, um Männer und Frauen zu benennen. Was in der Frühzeit des germanischen Schrifttums noch vertretbar war, das verfängt heute einfach nicht mehr. Im Nibelungenlied, das im 13. Jahrhundert entstand, ist von den „Burgundern“ und von den „Germanen“ die Rede, obschon bereits damals ein Zickenkrieg zwischen Brunhild und Krimhild über das männliche Geschlecht, vertreten durch Siegfried, triumphierte. Wie schon damals, hat der Sieg der Weiblichkeit über die Männlichkeit in der deutschen Sprache keinerlei Spuren hinterlassen. Die deutsche Sprache benutzt den maskulinen Plural, um Männer und Frauen zu benennen, den weiblichen Plural jedoch nur dann, wenn es darum geht, ausschliesslich Frauen zu benennen. Das ist ein Affront gegenüber dem weiblichen Geschlecht, und das nicht nur aus Gründen der Höflichkeit. Immerhin stellen die Frauen mit 50,5 Prozent die Mehrheit der Erdenbewohner.

In der Sprache Goethes. Bräuchte es noch weiteren Rückhalt und zusätzliches Rückgrat für das Gendersternchen, die Deutschen, die legitimierten Träger*innen der Sprache Goethes, liefern Rückhalt und Rückgrat. Sie erhoben den Begriff „Gendersternchen“ bereits im vorigen Jahr zum Anglizismus des Jahres 2018. Der Jury-Vorsitzende und Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch gilt als grosser Verfechter einer geschlechtergerechten deutschen Sprache. „Der Stern soll es ermöglichen, alle Geschlechter anzusprechen. Das Gendersternchen ermöglicht es überdies, auch Geschlechter jenseits von Mann und Frau sichtbar zu machen“, so die Jury.

Liebe Leser*innen, solidarisieren Sie sich! Egal, ob Frau oder Mann oder nichtbinäre Geschlechtervielfalt. Das Gendersternchen ist schon mal ein Anfang.

Weibliches Leben im patriarchalischen Staat. Zur Vertiefung meiner obigen Ausführungen empfehle ich die Lektüre des neusten Romans von Margaret Atwood. Mit Spannung wurde er erwartet, der Roman „Die Zeuginnen“. Margaret Atwood beschreibt einen totalitären Staat, der von Männern dominiert wird. Wie lässt sich weibliches Leben in einem patriarchalischen Staat entwickeln? Was passiert, wenn Frauen einen derart totalitären Staat plötzlich von innen angreifen und stürzen? Im Buch begegnen wir als Leser*innen gleich drei Erzählerinnen, drei ganz verschiedenen Frauenfiguren, die sich für ein weibliches Leben einsetzen inmitten eines männlich dominierten Staates. „Die Zeuginnen“ von Margaret Atwood ist ein Welterfolg, der zurzeit viel Gesprächsstoff liefert. Ist die Zeit reif, um auch wieder mal einen neuen Anlauf zu nehmen, die deutsche Sprache vom Mief des Patriarchats zu befreien?

Hören Sie hier meine Sendung „Literaturwelle“ zum neuen Roman von Barbara Atwood.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig