Franz Hohler: Corona contra Kultur

Franz Hohler spricht Klartext: „Heute Abend gehe ich ins Theater“, schreibt er provokativ in der NZZ am Sonntag. (Archivfoto: Kurt Schnidrig)

Eigentlich gehört er mit seinen 77 Jahren zu einer Corona-Risikogruppe. Doch Franz Hohler gibt sich jugendlich und kämpferisch. Es sei ein schrilles Alarmsignal, wenn die Kultur mit der Gesundheit verhandeln müsse, ob sie noch tolerierbar sei, schreibt er (NZZ am Sonntag, 8. März 2020). Und dann nimmt er die Angst-Infizierten aufs Korn: „Eigentlich sind wir alle schon infiziert, infiziert von der Furcht vor einer Infektion.“ Tatsächlich ist kaum nachvollziehbar, was da an Verboten und Geboten herumgeboten wird. Sind 180 Plätze in einem Theater zu verantworten, muss man 30 Besucher wieder rausschmeissen oder überhaupt nur so viele Sitze verkaufen, dass dazwischen zwei Meter Abstand bleiben? Sind nur 60 Plätze eine Garantie für ein seuchenfreies Gebiet? Enttäuscht beendet Franz Hohler seinen Erfahrungsbericht eines Schriftstellers mit dem Satz: „Und heute gehe ich ins Theater.“

Nach dem bundesrätlichen Trompetenstoss sind tatsächlich viele von uns Kulturschaffenden auf dem Rückzug und haben eigenverantwortlich abgesagt, was während Wochen und Monaten mit viel Arbeit vorbereitet worden war. Das gilt für die grossen Events ebenso wie für die kleinen. Gerne wäre ich jetzt an der Leipziger Buchmesse, aber die ist genauso abgesagt wie das Studententheater oder der Literatur-Talk an der nächsten Strassenecke. Und das Unsägliche dabei: Den über 65-Jährigen wird schon unverblümt empfohlen, überhaupt keine Veranstaltungen mehr zu besuchen. Dabei sind die Weisshäupter heutzutage oftmals sowohl gesundheitlich als auch kulturell besser aufgestellt als mancher Mitvierziger. Das Zwischenmenschliche, das heutzutage leider allzu oft einer Flucht ins Private gewichen ist, wird nun fast gänzlich zurückgedrängt: Wir beginnen uns zu misstrauen. Eine liebe Kollegin hat mir einen „Natelkuss“ geschickt, im Zug sitzt jede und jeder möglichst im eigenen Abteil, grüssen sollte man nur noch asiatisch, will heissen: mit einer kleinen Verbeugung (vor dem Virus) und gefalteten Händen. Übrigens: Kennen Sie, verehrte Leser*innen, den „Ebola bump“? Das ist die neue Bezeichnung für den Ellbogengruss. Auch das habe ich Franz Hohlers Erfahrungsbericht eines Schriftstellers entnommen.

Ein virenfreier Bücherversand. Franz Hohler, eine der Koryphäen der Schweizer Literatur, wartet auch mit konstruktiven Vorschlägen auf. Er weist darauf hin, dass Buchhandlungen einen garantiert virenfreien Buchversand anbieten. Also warum nicht ein paar Bücher lesen, wenn man schon das Haus nicht mehr verlassen und auf Kulturveranstaltungen verzichten muss? Gerne gebe ich an dieser Stelle die heissen Buchempfehlungen von Franz Hohler weiter. Und mehr noch, ich habe für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die ungemein passenden Lektüre-Vorschläge genauer unter die Lupe genommen. In all den empfohlenen Werken spielen Seuchen eine Rolle.

Die Liebe in den Zeiten der Pest. Von Alessandro Manzoni kennen wir die grandiose Schilderung der Pest in Mailand. Ja, in Mailand! Schon damals! Schon um 1630 galt, was für nicht wenige auch noch heute gilt: Vetternwirtschaft all überall und das Volk hat jeglichen Glauben an die staatliche Fürsorge verloren. Im Erfolgsroman von Alessandro Manzoni verliebt sich ein Adliger in ein keusches und tugendhaftes Mädel vom Lande. Das Bauernmädchen widersetzt sich dem lüsternen Geliebten. Die Liebenden werden getrennt, sie müssen zahlreiche Abenteuer überstehen, doch dann können sie sich endlich mehr als nur Verlobte sein. Die Liebenden haben sich insbesondere mit Widerwärtigkeiten wie Krieg und Pest auseinanderzusetzen. Doch was dieser italienische Literatur-Klassiker klar aufzeigt ist das Folgende: Ein Virus, und sei es noch so ansteckend, kann einer wahren Liebe nichts, aber auch gar nichts, anhaben.

Die Liebe in Zeiten der Cholera. Es handelt sich hier um einen Roman des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez. Das Werk erschien im Jahr 1985. Die Romanstory dreht sich um die märchenhafte und phantastische Liebesgeschichte von Florentino Arizas und der schönen Fermina Daza. Die Beiden lernen sich an der karibischen Küste kennen und verlieben sich unsterblich ineinander. Doch beendet Ferminas Vater diese Liaison, weil er für seine Tochter bereits einen reichen und noblen Arzt als Schwiegersohn ausersehen hat. Fermina muss schliesslich dem Werben des gesellschaftlich höher gestellten Arztes nachgeben und geht mit ihm eine 50 Jahre dauernde Ehe ein. Ihr Liebhaber aus Jugendzeiten, Florentino Ariza, gibt aber keineswegs klein bei, denn er hat seiner Freundin ewige Liebe geschworen. Als Ferminas Ehemann stirbt, macht Florentino seiner Jugendliebe, die ja jetzt Witwe ist, erneut einen Antrag. Er gewinnt sie für sich, allerdings erst nach Hunderten von Liebesbriefen. Und die Seuche? Was können die Viren dieser grandiosen Liebesgeschichte anhaben? Nichts. Im Gegenteil. Der noble Arzt, der Fermina zur Ehefrau gewinnt, verdankt sein Ansehen und seine Position der erfolgreichen Bekämpfung einer Epidemie. Zwar wird in der Haupthandlung des Romans die Choleragefahr immer wieder thematisiert, aber die Protagonisten bleiben von ihr verschont. Die Krux kommt aber erst ganz zum Schluss: Im märchenhaften Romanschluss wird die Cholerafahne nur zum Schein aufgezogen, um das Liebespaar beim Liebesspiel von der Gesellschaft abzuschirmen.

Die Liebe in Zeiten, als Italien zur Sperrzone erklärt wurde. Bereits im 14. Jahrhundert wurde ganz Italien schon einmal wegen eines Virus zur Sperrzone erklärt. Und wieder war eine Seuche auch eine Quelle für grossartige Weltliteratur. Das „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio berichtet von sieben jungen Damen und drei jungen Herren aus Florenz, die vor der Pest geflohen sind. Sie suchen Schutz vor dem Virus und halten sich zehn Tage lang in Quarantäne auf. In Quarantäne begeben sie sich während dieser zehn Tage (daher der Titel) in Fiesole, einem Landstädtchen in der Nähe von Florenz. In dieser Zeit der Quarantäne in Fiesole erzählen sie sich nach einer abgestimmten Ordnung untereinander Geschichten, teils auch deftigen, frivolen und erotischen Inhalts. Nicht selten macht sich Boccaccio in diesem Zehntagewerk über das Papsttum und über die Geistlichen lustig, indem er ihnen viele pikante Histörchen in die Schuhe schiebt. Das Geschichtenerzählen in der Quarantäne von Fiesole hat sich gelohnt. Nicht nur wurden die Protagonisten in Boccaccios „Decamerone“ vom Virus verschont. Literarisch bedeutsam ist vielmehr die Tatsache, dass der Decamerone die Jahrhunderte überlebt hat. So haben sich Millionen daran ergötzt und das Zehntagewerk, entstanden in der Quarantäne von Fiesole, blieb ein Fundus von mannigfaltigen Stoffen, aus dem Maler und Dichter bis in unsere Tage hinein immer wieder schöpften.

Text und Foto: Kurt Schnidrig