Buchmesse: Literatur im Radio

Literatur im Radio gewinnt weiter an Bedeutung, insbesondere auch in Krisenzeiten. Der Preis der Leipziger Buchmesse wurde erstmals im Deutschlandradio verliehen. (Symbolbild: rro).

In Deutschland feiert die Literatur im Radio Sternstunden. Eine der wichtigsten Auszeichnungen im Literaturjahr ist der Preis der Leipziger Buchmesse. Er wurde erstmals im Deutschland-Radio verliehen. Die Preisübergabe war Teil eines umfangreichen Literatur-Sonderprogramms. In der gegenwärtigen Krise und nach Absage der Leipziger Buchmesse präsentierte sich das Radio als stolzer Gastgeber für dieses bedeutende Ereignis. Der mit insgesamt 60’000 Euro dotierte Preis ehrt herausragende Neuerscheinungen und Übersetzungen in der Kategorie Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Der Preis ging an einen Roman, dessen Story sich um das legendäre DDR-Radio „Stern 111“ dreht.

Literaturschwerpunkt im Radio. Das Deutschland-Radio berichtete in einem umfangreichen Literaturprogramm über die Themen, die für die Leipziger Buchmesse geplant waren. In Autoren- und Kritikergesprächen wurden aktuelle Titel und Entwicklungen auf dem Buchmarkt vorgestellt. Auch die regelmässigen Literatursendungen des Deutschlandfunks griffen die Themen und Bücher auf, die für die Buchmesse geplant waren. Zweifellos war jedoch die Vergabe des bedeutenden Literaturpreises ein absolutes Highlight: „Die Vergabe im Radio ist eine aussergewöhnliche Massnahme und wir sind stolz, Gastgeber für dieses bedeutende Ereignis zu sein“, sagte Deutschlandradio-Programmdirektor Andreas-Peter Weber.

Belletristik-Preis an Lutz Seiler. Nachdem die Leipziger Buchmesse wegen Coronavirus abgesagt wurde, kürte die Jury den Autor Lutz Seiler zum Gewinner des renommierten Buchpreises am Radio. Er gewinnt mit seinem Roman „Stern 111“ die begehrte Auszeichnung. Der Preisträger erzählt von der Zeit, die dem Mauerfall in der DDR folgte. Plötzlich galten alte Gewohnheiten und Traditionen nicht mehr, neue Werte und Regeln waren jedoch noch nicht in Sicht. Die Jury begründet: „Die kunstvolle Erzählung zieht in den Bann des Möglichkeitsraums Berlin nach ’89.“ In seinem Buch lässt Seiler die Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung lebendig werden.

„Stern 111“. Dies ist der Titel des preisgekrönten Romans von Lutz Seiler. In der DDR-Unterhaltungselektronik war damals ein Kofferradio namens „Stern 111“ ein absoluter Verkaufsschlager. Das Kofferradio „Stern 111“ war für die ältere DDR-Generation ein geradezu legendäres Produkt. Viele erfuhren damals von der historisch bedeutsamen Zeit zwischen Umbruch in der DDR und Wiedervereinigung lediglich aus dem Kofferradio. Im Nachhinein bezeichnen nicht wenige aus der alten DDR-Garde heute diese Zeit als die verrückteste, aber auch als die beste in ihrem Leben. Der Protagonist im Roman heisst Carl Bischoff. Er stammt wie der Autor selbst aus Gera. Als Hauptfigur in „Stern 111“ schlägt sich Carl Bischoff als Hausbesetzer und als angehender Schriftsteller in Berlin durch. Carl Bischoff ist für uns Leser*innen eine Identifikationsfigur, welche die Wendezeit in Deutschland auch für Aussenstehende erlebbar macht. Bei der Lektüre wird man den Eindruck nicht los, dass Autor Lutz Seiler viel Autobiographisches in seinen Roman hineinverpackt hat. Auch Lutz Seiler begann als junger Lyriker, und auch er erlebte die stürmische Wendezeit im geteilten Berlin mit jeder Faser seines Herzens mit. So gerät denn „Stern 111“ zu einer detailgetreuen Erzählung aus dem nach neuer Identität strebenden Ost-Berlin.

Die Nachwendezeit miterleben. Zusammen mit dem Protagonisten Carl Bischoff begeben wir uns als Leser*innen auf einen Trip durch die damaligen Ostberliner Clubs, wir besuchen und besetzen zusammen mit Carl Bischoff die halb verfallenen Häuser Ostberlins. Wir atmen zusammen mit dem Protagonisten die schon beinahe sprichwörtlich freiheitliche Berliner Luft. Wir bekommen mit, wie aus dem illegalen Strassenstrich vor der „Assel“ ein einträgliches und kommerzielles Gebilde wird. Als Romanautor geht Lutz Seiler mit diesen historisch gesicherten Details sehr frei um, er hebt sie auf eine symbolisch-magische Ebene empor und sorgt damit für das Aussergewöhnliche und Besondere, das den Roman auch poetisch-spektakulär werden lässt. In diese Milieuschilderung, angesiedelt zurzeit der grossen Wende, verpackt der Autor die Geschichte seiner Eltern mit hinein. Er tut dies in einem zweiten Handlungsstrang. Nach dem Mauerfall verlassen diese fluchtartig das Elternhaus in Gera und lassen Carl zurück. Sie selbst suchen im Westen nach der neuen Freiheit und nach all dem, was sie bis anhin verpasst zu haben glauben.

Eine Radio-Legende. Das preisgekrönte Buch von Lutz Seiler ist dem Genre des Wenderomans zuzurechnen. Mit berührenden Retrospektiven erzählt er von Träumen und von unbändigen Sehnsüchten, die sich in einem einzigen Moment des Jahres 1989 hin zur Erfüllung drängten. Die verrückte Wendezeit war aber nicht gefeit vor Rückschlägen. Schliesslich blieb einzig das legendäre Kofferradio als treuer Wegbegleiter beim Aufbruch in eine neue Zeit: „Das Radio war unser einziges Licht, Stern 111“, resümiert der Autor abschliessend.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig