Geschichten aus dem Home-Office, Folge 2: „Supermacht“

Als Regisseur inszenierte ich ein Dürrenmatt-Stück im ehemaligen Ostblock. Was darauf folgte, bleibt als „Die Nacht von Warschau“ in grandioser Erinnerung. (Aus: Kurt Schnidrig: „abheben – wegfliegen. Wo Träume Flügel haben“. Rotten Verlags AG, 2016).

In diesen Wochen tobt wieder einmal ein „Kalter Krieg“ zwischen den Supermächten, zwischen Ost und West. Gegen die Corona-Krise kämpfen die östlichen Supermächte China und Russland Seite an Seite. US-Aussenminister Mike Pompeo kritisierte: „Die kommunistische Partei Chinas stellt eine erhebliche Bedrohung für unsere Gesundheit und Lebensweise dar, wie der Ausbruch des Wuhan-Virus deutlich gezeigt hat.“ Zur Beunruhigung des Westens trägt bei, dass sich Putin und Chinas Staatspräsident Xi Jinping prächtig verstehen. Ost gegen West? Eine ewige Feindschaft. Sie erinnert an die frühere Furcht des Westens vor dem Ostblock. Meine Geschichte „Die Nacht von Warschau“ spielt Anfang der Neunzigerjahre.

Ein Dürrenmatt-Stück im ehemaligen Ostblock. Ein Blick zurück. Anfang der Neunzigerjahre ist die Furcht des Westens vor dem Osten bereits Geschichte. Nicht nur der Ostblock fällt auseinander. Die sprichwörtliche Angst vor den Russen und deren Bündnispolitik hat sich aufgelöst. An deren Stelle aber ist Nationalismus getreten mit grotesken Zügen. Europa ist im Begriff, sich zu einigen, unter welchen Vorzeichen auch immer. Vor diesem Hintergrund gewinnt Dürrenmatts Stück „Das Unternehmen der WEGA“ eine seltsam zwiespältige Bedeutung. Mit einem Theater-Ensemble des damaligen Oberwalliser Lehrerseminars inszenierte ich das Dürrenmatt-Stück für die Bühne. Wir spielten das Stück dort, wo es im kriselnden Europa am meisten brannte, im ehemaligen Ostblock, in Warschau.

Ein Aufbruch zu neuen Horizonten. In Warschau spielten wir das revolutionäre Stück vor Hunderten von ungläubig staunenden Menschen. Der Inhalt unseres Stücks verschlug ihnen die Sprache. „Das Unternehmen WEGA“, das Stück über den Aufbruch nach neuen Horizonten, symbolisierte für die 12 Lehramtskandidat*innen und für mich die Forderung nach mehr politischer Fantasie. Das Stück transportiert neue und frische politische Fantasien, die beflügelnde Ideen und Denkansätze nicht in bestehenden Machtstrukturen untergehen lässt. Wenn Macht, Gewalt und Bomben die letzte Antwort sind, sind wir auch an jenem Punkt angelangt, wo der Tod jeglicher menschlicher Fantasie beginnt – so lautete unsere These, um die herum wir das Stück arrangierten. Unsere Intention bestand darin, demokratische Ideen in Form einer Inszenierung auf die Bühne zu bringen.

Die legendäre Nacht von Warschau. Nach der glanzvollen Aufführung mit unserem jungen Ensemble in der Oper von Warschau flanierten wir durch Warschaus Strassen, wir verbrüderten und verschwesterten uns mit der polnischen Jugend und wir feierten das „Unternehmen WEGA“ ausgiebig. Damals beschlossen wir, nie, wirklich nie mehr, die Worte „Ostblock“ und „Westblock“ in den Mund zu nehmen. Spät in der Nacht wurde eine Proklamation verlesen mit dem Wortlaut: „Wir sind mit dem Raumschiff WEGA auf der Venus gelandet. Politik in der bisherigen Form gilt dort als überflüssig. Jede und jeder darf dort politisch tätig sein. Für uns Venusbewohner ist eine Rückkehr zu den bestehenden Machtstrukturen unserer Erde schlichtweg uninteressant und unverständlich.“

So war die „Nacht von Warschau“ so etwas wie das politische Abheben und Wegfliegen in ein neues Europa. Die polnischen Freundschaften hielten sich über Jahrzehnte, und sie lehrten uns, dass man beim Theaterspielen durchaus auch das Leben üben kann.

Text und Foto: Kurt Schnidrig

(Aus: Kurt Schnidrig: abheben – wegfliegen. Wo Träume Flügel haben. Rotten Verlags AG, Visp 2016. S. 116f.)