Beat Albrecht empfiehlt: „Zukunftsrede“

Beat Albrecht empfiehlt seinen Freunden „Zukunftsrede“ von Roger Willemsen zur Lektüre. (Archivfoto: Kurt Schnidrig)

Schauspieler, Regisseur, Sprachcoach und Theater- und Hörbuchproduzent Beat Albrecht empfiehlt seinen Freunden in diesen entschleunigten Zeiten einen ganz besonderen Text von Roger Willemsen zur Lektüre. Willemsen letztes Buch hätte „Wer wir waren“ heissen sollen. Es sollte darlegen, wie die Welt, die wir unseren Nachfahren vererben, beschaffen sein wird. Leider – wir wissen es – starb Roger Willemsen vor vier Jahren in Hamburg. Vieles, was er in seinem letzten Buch hätte veröffentlichen wollen, hat er in einem bewegenden Aufruf an die nächste Generation gerichtet. Roger Willemsen hat diese Rede am 24. Juli 2015 gehalten. Es war dies sein letzter Auftritt. Die Rede ist als „Zukunftsrede“ in die Literaturgeschichte eingegangen.

Roger Willemsen (1955-2016) bleibt uns in Erinnerung als einer der bekanntesten und beliebtesten Intellektuellen Deutschlands. Als Publizist, Moderator, Filmproduzent, Dozent und Buchautor hat er ein breites Publikum erreicht. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller „Der Knacks“, „Die Enden der Welt“, „Momentum“ und „Das Hohe Haus“. Sein umfangreiches Werk bespricht Insa Wilke im Band „Der leidenschaftliche Zeitgenosse“. Von Roger Willemsen also empfiehlt uns Beat Albrecht „Wer wir waren“, besser bekannt als die „Zukunftsrede“.

„Wer wir waren“. In seiner Zukunftsrede breitet Roger Willemsen ein Panorama aus, das die Geschichte der Menschheit streift. Willemsen versucht unsere Nachfahren aufzurütteln, seine Zukunftsrede ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine „Abspaltung aus der Rasanz der Zeit“. Die Zukunftsrede ist auch ein Aufruf an die nächste Generation, sich nicht einverstanden zu erklären.

Die Krise der Menschheit habe früh begonnen, schreibt Willemsen. Als vor fünf bis sieben Millionen Jahren sich die Hominiden von den afrikanischen Affen in Südafrika getrennt hatten, da sei die afrikanische Baumbevölkerung auf den Boden gekommen und habe sich den aufrechten Gang beigebracht. Vor ungefähr 3,5 Millioen Jahren sei dann ein solcher Hominide in eine Höhle gefallen, „vielleicht ein dickfelliger, humorloser Materialist, der nie nach dem Sinn des Lebens fragte“, vermutet Willemsen. Und er fährt fort: „Gefunden wurde er liegend, das Gesicht in den angewinkelten Arm gedrückt, in derselben kontemplativen Haltung wie später Ötzi.“ Seit diesen Tagen sei der Mensch in der Krise, die sich als Krise der gesamten Welt herausstellen sollte. „Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten.“

Die einzige sichere Zukunft ist die Krise, gibt sich Roger Willemsen in seiner Zukunftsrede überzeugt. Nur würden wir der Krise immer neue Namen geben, Namen wie Klimaerwärmung, Übersäuerung der Meere, Abschmelzen der Gletscher, Migration, Burnout, Dürre, Glaubens- und Handelskriege, Ansteigen des Meeresspiegels, Austrocknung der Wüsten, Ressourcenknappheit, Überbevölkerung, Artensterben, multiresistente Keime. Und Willemsen stellt die rhetorische Frage: Wir können es nicht mehr hören, nicht wahr?

Die Zukunft hat trotzdem ein blendendes Image. Mag die Welt auch zugrunde gehen, die Zukunft erscheint uns sicherer, gesünder, freier und friedlicher. Willemsen stellt in seiner Zukunftsrede fest, dass wir Heutige an die „Verheissung einer erregend frischen Zeit“ glauben. Der Autor stellt Vermutungen an, woran wir diesen goldenen Zukunftsglauben festmachen: „Jeder Computer animiert mühelos, jedes Musikvideo simuliert genüsslich jenen Zustand von Schwerelosigkeit, der für eine Zeitlang das utopische Lebensgefühl offenbar am besten repräsentiert.“

Schnelllebige Literaturproduktion. Die Lust an der Beschleunigung treibe uns in die Zukunft, glaubt Willemsen. Und er kommt in diesem Zusammenhang auch auf die Literaturproduktion unserer Zeit zu sprechen. Angesichts des Tempos der Zeit, der Geschwindigkeit der Rezeption, der Notwendigkeit zu verdichten, verstehe er es noch eher, dass jemand Romane schreibe, als dass er sie lese, moniert Willemsen in Übereinstimmung mit Alfred Polgar. „Um 1800, um 1900, dann wieder um das Jahr 2000 erlebten Fragment, Aufzeichnung, Skizze, Story, sogar Splitter überschriebene Texte ihre Blütezeiten und befeuerten, auch abhängig von den jeweiligen technischen Verbreitungsmöglichkeiten, immer neue Modernisierungsschübe – erst in der Parabel und Kalendergeschichte, dann in Feuilleton und Kurzgeschichte, schliesslich in Blog und SMS. Diese knappen Formen waren es, die die Taktung des literarischen Lebens skandierten.“

Die wahren Paradiese seien ohnehin jene, die wir verloren haben, fasst Willemsen zusammen. Deshalb stellen sich viele die ideale Zukunft schon vor als die Wiederkehr des Vergangenen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig