Gertrud Leutenegger: „Panischer Frühling“

Einen „Panischen Frühling“ mit weltweitem Lockdown gab es auch schon vor genau zehn Jahren. Gertrud Leutenegger schrieb darüber ein Buch. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Erinnern Sie sich noch, liebe Leser*innen, an den Frühling 2010? Es war der Frühling, als auf Island der Vulkan Eyiafjallajökull mit ungeahnter Vehemenz ausgebrochen war. Mit seinen Aschewolken hatte der Vulkan den Flugverkehr in ganz Europa lahmgelegt. Die Aschepartikel erschwerten das Atmen. Risikogruppen mit Vorbelastungen mussten eine wochenlange Ausgangssperre erdulden. Eine ausgesprochene Ausnahmesituation entstand für alle, die verreisen wollten. Wie wirkte sich diese Ausnahmesituation auf die Menschen aus? Darüber schrieb die Innerschweizer Autorin Gertrud Leutenegger vier Jahre später, im Jahr 2014 also, einen Buch-Bestseller mit dem Titel „Panischer Frühling“, der es auf die Shortlist für den Schweizer Buchpreis schaffte.

Literarische Verarbeitung. Kann das Schreiben in der Krise therapeutisch wirken? Wie sich eine Ausnahmesituation mit europaweitem Lockdown literarisch verarbeiten lässt, das hat vor genau zehn Jahren Gertrud Leutenegger mit ihrem Roman „Panischer Frühling“ grossartig und vorbildlich gezeigt. Ein Notstand bietet mannigfach Gelegenheit, sich im Leben neu zu orientieren. Es braucht zuweilen einen schockartigen Schub von aussen, damit wir aus dem abstumpfenden Alltagstrott ausbrechen können. In ihrem Roman „Panischer Frühling“ lässt Gertrud Leutenegger die Ich-Erzählerin, es ist dies eine ältere Frau, durch London flanieren. Sie nutzt die „Flugstille über Europa“ dazu, in Gedanken versunken die Stadt zu durchstreifen. Während sie den Londoner Himmel nach Aschepartikeln absucht, taucht sie in die eigene Kindheit ab.

Zeit der Erinnerung. Ein Stillstand, ein Lockdown, bringt immer auch viel Zeit und Ruhe mit sich, um Erinnerungen aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche zu holen. In „Panischer Frühling“ schlägt die Ich-Erzählerin in Gedanken eine Brücke zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen. In der Psychologie nennt sich sowas eine „Regression“, ein Zurückfallen in kindliche Verhaltensmuster also.

Bilder aus der Kindheit. Um persönliche Erinnerungen einer breiten Leserschaft mitzuteilen, ist ein Gegenüber vonnöten. In „Panischer Frühling“ tritt uns dieses Gegenüber in Gestalt von Jonathan entgegen. Jonathan ist ein Mann Mitte Zwanzig, dem die Ich-Erzählerin rein zufällig auf der London Bridge begegnet. Ins Zentrum rücken die Sommerferien, die sie als Kind auf dem Pfarrhof eines Onkels verbringen durfte. Die sonnigen Bilder aus der Kindheit sind ebenso frisch wie die Sicht auf die Strassenzüge in Londons Westend.

Kindheitsgefühle wachküssen. Mit wenigen Sätzen gelingt es der Autorin, einfühlsam und für die Leserschaft nachvollziehbar den zauberhaften Schwebezustand zwischen Kindsein und Erwachsenenwelt auszukosten. Der Raum des Vergangenen weitet sich beim Lesen, und der Roman versprüht einen wunderbaren Charme, eine Magie, die den Leser in seinen Bann zieht. Präzise Vergleiche und Metaphern lassen auch die eigene Jugendzeit wieder auferstehen. Ja, es lohnt sich, in die eigene Vergangenheit abzutauchen und nach dem Kind zu suchen, das man einmal war. Und es lohnt sich, das Hier und Heute mit dem Gestern zu vermählen.

Sind Sie, liebe Leser*innen, neugierig geworden? Ich kann den Roman „Panischer Frühling“ aus dem Jahr 2010 wärmstens zur Lektüre empfehlen. Sie werden dabei mit Gertrud Leutenegger eine Autorin entdecken, die Sie mit ihrem poetischen Zauber in andere Welten entführen wird. Immer wieder mal habe ich in den vergangenen Jahren tief bewegt ihre wunderbare Bildersprache genossen, und diese Autorin hat es immer wieder verstanden, im Kopf ihrer Leserschaft unvergleichlich phantasievolle Bilder zu erschaffen.

Hören Sie hier meinen Literaturwelle-Podcast zu „Panischer Frühling“ aus dem Jahr 2014. Das Gespräch mit mir führte damals rro-Moderatorin Karin Imhof.

Text und Foto: Kurt Schnidrig