„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust…“

Rilke-Kapelle bei Muzot ob Siders: Stille Ostern 2020 ohne Glockenklang und Chorgesang. (Foto: Kurt Schnidrig)

Ostern 2020 sind stille Ostern. Gesundheit oder Wirtschaft? Diesem Dilemma hat sich die Politik zu stellen. Lockdown zugunsten der Gesundheit oder Öffnung zugunsten der Wirtschaft? Beides ist wichtig für unser Wohlergehen. „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ – noch heute benutzen wir diese Worte, um ein Dilemma oder einen Zwiespalt zum Ausdruck zu bringen. Das Zitat stammt aus Goethes „Faust“. Die Worte spricht Doktor Faustus anlässlich seines Spaziergangs am Ostermorgen, der ihn hinaus vor die Tore der Stadt führt.

Spaziergang am Ostermorgen. Die Szene „Vor dem Tor“ aus dem gleichnamigen Drama von Johann Wolfgang von Goethe ist weltberühmt. Seit meiner Studentenzeit kommt mir jedes Jahr zu Ostern der Spaziergang Fausts am Ostermorgen in den Sinn. Er spaziert über die Felder draussen vor der kleinen Stadt. Es ist Ostermorgen und die Strassen sind voll mit Leuten, die das Glück des hohen Feiertags geniessen. Doktor Faust vergisst seine triste Lebenssituation und lässt sich von der Freude anstecken. Er verleiht seiner Osterfreude lautstark Ausdruck mit dem Ruf: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Getrübte Osterfreude. Die Osterfreude des Gelehrten Faust ist jedoch nicht grenzenlos. Noch in der Nacht vor Ostern grübelt er in seiner Studierstube über den Sinn des Daseins nach. Die herkömmlichen Wissenschaften, die Philosophie, die Juristerei, die Medizin und auch die Theologie, vermögen ihm nichts mehr zu geben. Einzig in der Magie sieht er einen Weg, in die Geheimnisse dieser Welt einzudringen. Er schlägt das Zauberbuch des Nostradamus auf. Mit geheimnisvollen Formeln beschwört er den Erdgeist. Der Geist erscheint denn auch, jedoch nur, um Doktor Faust seine Nichtigkeit als Mensch gegenüber der Natur und ihrer ewig schaffenden Gewalten vor Augen zu führen.

Das Auferstehungswunder. Der Gelehrte Faust aus Goethes Drama meditiert verzweifelt und glaubt endlich, die Lösung für alle bedrängenden Probleme dieser Welt im Tod gefunden zu haben. Doch kaum hat er die Schale mit dem Gift an den Mund gesetzt, als Glockenklang und Chorgesang ihm „des Osterfestes erste Feierstunde“ künden. Überwältigt von Jugenderinnerungen und dem Auferstehungswunder des Osterfestes, fühlt er sich der Erde neu zurückgegeben.

Zwei Seelen in der Brust. Auf seinem Spaziergang vor die Tore der Stadt blinzelt Doktor Faust in die Sonne. Der Anblick der Sonne ruft in ihm aufs Neue die metaphysische Sehnsucht wach, und er gelangt zur Selbsterkenntnis: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen.“ Auch am Ostermorgen des Jahres 2020 liesse sich zusammen mit allen Gelehrten und Doktores dieser Welt ausrufen: Zwei Seelen wohnen, ach! in unserer Brust! Wollen wir die Menschen einsperren hinter den Toren der Stadt? Vermögen die herkömmlichen Wissenschaften, insbesondere die Medizin, dem Menschen noch etwas zu geben? Die Versuchung ist gross, mit geheimnisvollen Formeln den Erdgeist zu beschwören. Bringt ein Osterspaziergang vor die Tore der Stadt, also eine Öffnung, die Erleuchtung? Ein Spaziergang, eine Öffnung, lässt zumindest die triste Weltlage für kurze Zeit vergessen, und „kündet des Osterfestes erste Feierstunde“. Verleihen wir der Osterfreude lautstark und optimistisch Ausdruck mit dem Ruf: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Text und Foto: Kurt Schnidrig