Die Eisheiligen: Im Rausch der Gefühle

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Die Eisheiligen bringen nochmals Schnee auf den Berggipfeln und sorgen für einen Rausch der Gefühle bei Dichtern und Schriftstellern. (Foto: Kurt Schnidrig)

Mitten im Monat Mai, wenn die Menschen schon in frühsommerlicher Stimmung sind, schlagen die Eisheiligen nochmals zu. Sie kommen mit Frost, Kälte und manchmal gar mit Schnee. Dieses Jahr haben sie sich prompt und standesgemäss angemeldet. Ab kommendem Montag, 11. Mai, bis Freitag, 15. Mai, bringen sie nochmals kühle Temperaturen und winterliche Niederschläge. Besonders Pankratius kennt am kommenden Dienstag, 12. Mai, keine Gnade. Der frühchristliche Märtyrer aus dem 4. Jahrhundert besorgt uns einen kühlen Dienstag mit Niederschlag von früh bis spät. Warum Pankratius so grantig ist? Unter dem römischen Kaiser Diokletian sollte er enthauptet und seine Leiche den Hunden zum Frass vorgeworfen werden. Glaubensbrüder konnten im letzten Augenblick das Schlimmste verhindern und Pankratius in den Katakomben Roms zur letzten Ruhe betten. Nach dem etwas milder gestimmten Servatius am Mittwoch folgt dann noch der frostige Bonifatius, bevor die kalte Sophie am Freitag das Gastspiel der Eisheiligen beendet. Nun, es sieht ganz so aus, als würde sich eine alte Bauernregel in diesem virenverseuchten Frühjahr 2020 bestätigen: „Vor Nachtfrost du nie sicher bist, bis die Sophie vorüber ist.“

Stimmungsvolle Naturlyrik. Die Jahreszeiten und das Wetter haben die Dichter zu allen Zeiten beeinflusst. Die Naturlyrik widerspiegelt die unterschiedlichen Stimmungen des Frühlings in Gedichten von Goethe, Klopstock und Eichendorff, also in den Epochen der Klassik, der Empfindsamkeit und der Romantik. In der Moderne hat insbesondere Erich Fried mit seinem „Gespräch über Bäume“ und Günter Eich mit „Vorsicht“ die Naturlyrik wieder salonfähig gemacht.

Dichter im Rausch der Gefühle. Mit den Eisheiligen mitten im Mai treffen winterliche und sommerliche Stimmung aufeinander. Sowas kann bei empfindsamen Menschen, und insbesondere auch bei Dichtern, zu einem wahren Gefühlschaos führen. Vielleicht ist dies mit ein Grund, weshalb im Mai die gefühlsbetonte Dichtung, und vor allem die Naturlyrik, bei vielen Dichtern angesagt ist. Im frühlingshaften Schwang der Gefühle leisten sich Dichter und Schriftsteller oftmals auch schamlose und verwegene Texte. Vor nunmehr sechs Jahren lud der damalige Walliser Staatsrat und Dichter Oskar Freysinger zur Vernissage eines Gedichtbands ein. Er präsentierte skurrile Gedichte, „schamlos gereimt“ und „verwegen illustriert“. (Oskar Freysinger: Fabelhaft. Skurrile Gedichte. Schamlos gereimt von Oskar Freysinger. Verwegen illustriert von Scapa. Weber Verlag.)

Neubeginn mit revolutionären Ideen. Die Maienzeit steht auch symbolisch für rebellische und revolutionäre neue Ideen auf allen Gebieten. „Globaler Frühling“ – so heisst ein Politroman, der nach dem Arabischen Frühling sogar eine Ausweitung auf einen weltumspannenden Frühling propagierte. Im Roman rebellieren immer mehr Weltbürger für eine freie Entfaltung. Sie kämpfen gegen korrupte Abzocker, fanatische Terroristen und gegen jede Menge Skandale. Als dann aber eine Strahlefigur auftritt, die Klartext spricht, gerät der Roman zu einem „High Noon der Gerechtigkeit“. (Wilfried Wiatr: Globaler Frühling. Politroman. Gantex Verlag.)

Revolutionär und aufmüpfig. Die Protagonisten in der frühlingshaften Romanliteratur des Monats Mai sind – genauso wie die gegen Wärme und Wonne protestierenden Eisheiligen – voller rebellischer Ideen. Sie trachten danach, unsere saturierte Gesellschaft mit einem „Kälteschock“ zu verändern. Im Roman „Kein Frühling für Bahar“ versucht die junge Türkin Bahar aus den engen kulturellen Schranken einer Gastarbeiterfamilie auszubrechen. Dafür bezahlt Bahar mit dem Tod. Ihr Bruder steht unter Mordverdacht. War es ein sogenannter Ehrenmord? Der Roman zeigt, wie Frauen wie Bahar bei uns unter dem „Kismet“ leiden. „Kismet“ – das ist ihr Schicksal und ihre Bestimmung. Am „Kismet“ führt kein Weg vorbei. (Sabine Adatepe: Kein Frühling für Bahar. Acabus Verlag.)

Erotische Spielarten der Liebe. Der Rausch der Gefühle im Wonnemonat Mai sorgt in der Romanliteratur immer wieder mal für liebestolle Auswüchse. Im Roman „Frühling und so“ spielen die Gefühle und Hormone buchstäblich verrückt. Häufig sind es blutjunge Literat*innen, die sich an derart provokative Liebesromane wagen. Der Erstlings-Roman der 18-jährigen Rebecca Martin berichtet von den erotischen Eskapaden der Protagonistin Rachel in der Stadt Berlin. Sie sucht nach der grossen Liebe. Aber gibt es die grosse Liebe in Wirklichkeit überhaupt? Liebesglück und Liebesleid sind nahe beisammen. Die Protagonistin im Roman bringt es auf den Punkt: „Ich spüre förmlich, wie mein Herz ritsch macht, einmal in der Mitte durchgerissen, bemühe ich mich hilflos, es wieder zu flicken.“ (Rebecca Martin: Frühling und so. ANAIS Verlag, Berlin.)

Wer etwas in die Jahre gekommen ist, dem bleiben die Erinnerungen an früher. Es ist leider nicht mehr alles so, „wie einst im Mai“. Man blickt verständnisvoll und etwas melancholisch zurück auf die eigene Jugendzeit. Wer bis über beide Ohren verliebt war, der hat oftmals nicht nur sein Herz verloren, sondern hin und wieder auch den Verstand. Und trotzdem. Was gibt es Schöneres als eine neue Liebe im Mai. „Alles neu macht der Mai“, heisst es. Und dies mit oder ohne die „Eisheiligen“, in welcher Form auch immer sie den Liebenden entgegentreten.

Hören Sie meinen Radio-Podcast zum Thema „Der Frühling kommt“. (Quelle: rro)

Text, Foto und audio: Kurt Schnidrig