Nach der Krise: Shoppinglust

Sehnsucht nach der Lebenswelt vor Corona: Das Shoppingcenter Macy’s in New York. (Foto: Kurt Schnidrig)

Wer glaubt, Shopping sei nur was für Frauen, der irrt. Ein Besuch noch vor Corona-Zeiten im Macy’s in New York faszinierte mich und zog mich tagelang in seinen Bann. Das Haupthaus von Macy’s in New York ist mit fast 200’000 Quadratmetern eines der grössten Warenhäuser der Welt. Zum Vergleich: Das Kaufhaus des Westens in Berlin hat 60’000 Quadratmeter. Das Shoppingcenter Macy’s in New York hat zehn Etagen, da lässt sich alles Käufliche finden, was des Menschen Herz begehrt – und manches davon lässt auch Männerherzen höher schlagen. Als Blumenliebhaber („Vergiss nicht die Blumen in deinem Haar“) verliebte ich mich in die „Flowershow“. Bei der „Flowershow“ im Macy’s kann man 200’000 Pflanzen und Blumen bewundern. Wie bereits gesagt: Wer glaubt, Shopping sei nur was für Frauen, der irrt. Und – ob Sie es glauben oder nicht – soeben habe ich das Buch einer Frau gelesen, die Einkaufszentren nur besucht, und zwar ohne zu shoppen.

Eine Frau will nicht shoppen. Sie heisst Rinny Gremaud. Sie hat die weltgrössten Einkaufszentren besucht, ohne zu shoppen. Starbucks, Victoria’s Secret, Michael Kors, L’Occitane, Zara, H&M, Tommy Hilfiger, Mc Donald’s, Pizza Hut… Nach dem Besuch all dieser Einkaufs- und Konsumtempel hat sie soeben ein Buch veröffentlicht, in dem sie ihre tiefe Verachtung gegenüber diesen Einkaufs-Paradiesen kundtut. (Rinny Gremaud: Verkaufte Welt. Edition Bücherlese, 2020. 205 Seiten, um Fr. 30.-, E-Book 21.-) Besucht hat sie die weltgrössten Malls – so werden Einkaufsparadiese in der Sprache der Betriebswirtschaft genannt – also nicht um zu shoppen, sondern um ihre Bedenken als Ökonomin bezüglich herdenmässigem Massenkonsum und sinnloser Einkaufslust in eine Reportage über unsere globalisierte Wirtschafts- und Lebenswelt zu verpacken.

Shopping-Tour by night in New York. Lustvolles Erlebnis und fragwürdiger Massenkonsum gleichzeitig. (Foto: Kurt Schnidrig)

„Verkaufte Welt“. Als studierte Betriebswirtin kritisiert die Autorin Rinny Gremaud unsere Shoppinglust vor allem aus ökonomischer und soziologischer Sicht. Sauer aufgestossen ist ihr die Marken-Monotonie in den grossen Shopping-Malls. Aus der Soziologie zitiert sie den Begriff „Nicht-Orte“. Alles ist überall gleich oder ähnlich. Den sogenannten Einkaufsparadiesen fehle das Eigenleben, das Originelle, schreibt Rinny Gremaud. Auf der ganzen Welt verkaufen alle die gleichen Markenprodukte. Die Marken-Monotonie raube den Einkaufs-Palästen die eigene Identität. Warenhäuser, wo auch immer sie stehen, werden so zu Nicht-Orten, sie werden zu Funktionsräumen ohne Geschichte und ohne ein Eigenleben. Die Autorin kritisiert auch die Städte, welche den Einkaufstourismus fördern, es handle sich dabei um „Mega-Malls“, aus dem Boden gestampft von seelenlosen Stadtplanern. Sie würden die Städte auf eine merkantile Funktion reduzieren, gibt sich die Autorin überzeugt.

„Bei der Marken-Monotonie der Einkaufs-Ketten und Markenläden ist es gleichgültig, ob man hier oder anderswo einkauft.“

Rinny Gremaud

Ein lokal verankertes Einkaufsverhalten. Wollen wir zum überbordenden und überall gleichen Shopping-Tourismus zurückkehren, so, wie er weltweit in Vor-Corona-Zeiten üblich war? Oder sollten wir die gegenwärtige Krise nutzen, um ein verändertes, bewusstes und lokal verankertes Einkaufsverhalten anzustreben? In „Verkaufte Welt“ gibt sich Rinny Gremaud eher pessimistisch, sie glaubt nicht so recht daran, dass sich nach der Krise nun eine neue Einkaufsrealität etablieren könnte. Grosse Firmengruppen würden wohl auch weiterhin für einen weltweiten Marken-Eintopf sorgen.

Das Ende einer langen Nacht in New York. Trotz Massenkonsum und Shoppingexzessen immer auch ein bleibendes Erlebnis mit spannenden Erkenntnissen.

Das Buch „Verkaufte Welt“ von Rinny Gremaud ist soeben in deutscher Sprache erschienen. Für die gut gelungene deutsche Übersetzung zeichnet Andrea Springler verantwortlich. Das französischsprachige Original „Un monde en toc“ ist mit dem Prix Michel-Dentan ausgezeichnet worden.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig