Ernesto Perren: „Schein statt Sein!“

Ernesto Perren (rechts) hat einen Essay für meinen rro Blog Literatur geschrieben. Im Bild: Beim Auftakt zur Litera(Tour) 2020 des Club 73 in Zermatt.

Ernesto Perren ist in Zermatt als Sohn einer angestammten Bergführerfamilie geboren. Er war Luftverkehrsangestellter, Trekking-Reiseleiter und Para-Hotelier. Er verfügt über ein Flair für die Natur, für Sprachen und Kulturen. Er ist Bergschriftsteller, Essayist und Lyriker. Die Spannung zwischen Berg und Tal und zwischen Natur und Kultur inspiriert ihn zum Schreiben. Er erhielt diverse Auszeichnungen wie den Raiffeisen Kulturpreis 2007, den Kulturpreis Zermatt 2012 und den Preis des Walliser Schriftstellervereins 2005 und 2012. Zuletzt erschien von ihm der wunderschöne Band „Mythos Matterhorn“. Viel Vergnügen beim Lesen des nachfolgenden kulturgeschichtlichen Essays von Ernesto Perren!

Schein statt Sein! Facetten einer Dekadenz

von Ernesto Perren

Als Dekadenz – der Begriff geht auf das Italienische „decadere“, was „verfallen“ heisst, zurück – wird gemeinhin ein Zustand des kulturgeschichtlichen Niedergangs bezeichnet. Dieser „Verfall“ äussert sich natürlich auf allen Ebenen, denn Kultur versteht sich hier nicht nur als Hochkultur, sondern schliesst die ganze Palette des menschlichen Verhaltens und Wirkens – sei es sozial, politisch oder wirtschaftlich – mit ein. Das Äussere plustert sich auf und bootet das Innere, als dessen Ausdruck es eigentlich in Erscheinung treten müsste, aus. Schein gilt nun mehr statt Sein! Das Wesentliche der Dekadenz liegt im Auseinanderdriften der einzelnen Teile eines Ganzen. Teile, die sich wie bei der babylonischen Sprachverwirrung untereinander nicht mehr verständigen können, weil sie sich gegen ihre untergeordnete Rolle auflehnen, und nicht mehr dieselbe Sprache gebrauchen, sprich: völlig anderen Wertvorstellungen anhängen. Feines und Leises, das zugegebenermassen schon eine gewisse Überkultivierung andeutet, verstummt, Lautes und Triviales erheischt immer mehr Aufmerksamkeit und wird schliesslich massgebend. Die Harmonie des gesellschaftlichen Zusammenlebens zerfällt, und dies läutet den Anfang vom Ende ein. Denn der biblische Turmbaumythos, – wenn es ihn nicht gäbe, müssten wir ihn erfinden, – hat es in sich.

„Dekadenz überfällt eine Zivilisation jeweils auf ihrem Höhepunkt: Es ist gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen!“

Ernesto Perren

Schon Friedrich Nietzsche (1844-1900 hat als einer der ersten Philosophen das vielschichtige Phänomen des heraufdämmernden Niedergangs, das uns nun in der westlich geprägten Welt überall in die Augen sticht, verspürt. Er erörtert es unter anderem in seiner Schrift „Der Fall Wagner“, wo er den Erneuerer der „Tragödie aus dem Geiste der Musik“ als Künstler der „décadence“ bezeichnet. Nicht ganz von ungefähr stammt der Begriff „Dekadenz“, dem etwas herbstlich Blasses anhaftet, aus dem Italienischen.

Wir stossen gerade im viel besungenen „Land wo die Zitronen (ver-)blühn“ auf Schritt und Tritt auf dekadente Lebensformen. Unverbindlichkeit feiert Urständ, und überall in diesem einst kulturgesegneten Land umfängt uns Flachheit.“

Ernesto Perren

Dies äussert sich vor allem in der geistlosen Unterhaltungskultur am Fernsehen: Alles verkommt zum oberflächlichen showerhaschenden Spiel. Doch Dekadenz begleitet uns auch auf Schritt und Tritt bei einem hiesigen Einkaufsbummel: Warenhausketten bieten überall dieselben Massenwaren an. Gute mittelständische Fachgeschäfte, wo es noch einheimische Qualitätsprodukte zu kaufen gibt, sind kaum mehr anzutreffen. Service, einst das A und O eines guten Ladens, wird zum Fremdwort. Es gilt zu verkaufen, nicht Altes aufzufrischen. Konsum versteht sich darin, Mehrwert – ob wir ihn brauchen oder nicht – um jeden Preis zu ergattern. Produkte werden einerseits billiger und flüchtiger, Schmuck und Zeitmesser verkommen zu Accessoires oder werden andererseits, wie z.B. eine handgefertigte Schweizeruhr, unerschwinglich teuer. Weil die Modetrends so schnell wechseln, lohnt es sich für Modebeflissene nicht mehr, wertvolle Dinge zu erwerben.

„Die Dekadenz, die sich anfangs des letzten Jahrhunderts z.B. in der europäischen Literatur als Fin de Siècle ankündigte, hat längst alle Lebensbereiche – auch solche, die als hochstehend gelten – durchdrungen.“

Ernesto Perren

Bei klassischen Konzerten und Opernaufführungen spielt die Darbietung oft eine wichtigere Rolle als der Gehalt des Stücks. Das heisst, der klingende Name des eingeflogenen Dirigenten oder Interpreten lockt mehr Zuhörer an als der Name des Komponisten. Bei Opern und Schauspieldarbietungen überwiegt eine auf Effekte angelegte Inszenierung, die oft den eigentlichen Gehalt des Stückes verkennt.

„Bei Konzerten spielt der Gehalt des Stücks eine wichtige Rolle“, sagt Ernesto Perren. Er ist ein grossartiger Interpret des klassischen Wiener Lieds. (Foto: Kurt Schnidrig)

Als kleines Beispiel möchte ich eine moderne „Reigen“-Inszenierung am Burgtheater anfügen. Ein Stück, das vor hundert Jahren zu Unrecht als Spiegel der Dekadenz Furore machte, wird heute nun echt dekadent inszeniert. Arthur Schnitzler ging es damals darum, die verlogene Scheinmoral der k-und-k-Gesellschaft durch eine frivole Schilderung flüchtig erotischer Begegnungen zu entlarven. Der Regisseur, der sie nun, statt als Stilmittel bloss anzudeuten, vulgär pornographisch als Kern des Schauspiels inszeniert, verkennt oder missachtet damit Schnitzlers Absicht.

„Dekadenz zeichnet sich meist durch Verstimmung des harmonischen Zusammenspiels und Überbewertung einzelner Teile aus.“

Ernesto Perren

Genau das, die Überinstrumentierung seiner musikalischen Dramen, warf 1888 Friedrich Nietzsche in seiner letzten Veröffentlichung, „Der Fall Wagner“, dem fünf Jahre früher in Venedig verstorbenen Musiktitanen vor. Pointiert liesse sich sagen, dass sich Intendanten und Regisseure heutzutage nicht mehr in ihrer Rolle als Diener an der Kunst bescheiden mögen. Um Aufsehen zu erregen, wollen sie sich durch Provokation profilieren. Ob sie dadurch dem künstlerischen Gehalt des Werks gerecht werden, scheint sie wenig zu kümmern.

„Es ist wichtig, dem künstlerischen Gehalt eines Werks gerecht zu werden“, sagt Ernesto Perren. (Foto: Kurt Schnidrig)

Zu Zeiten der kulturellen Blüte Griechenlands blieb, wie es heute noch in der byzantinischen Ikonenkunst der Fall ist, ein Künstler anonym. Heutzutage wird zum Beispiel bei Literaturverfilmungen der Interpret sogar dem Urheber übergeordnet. Der Name des Hauptdarstellers prangt in grossen Lettern auf der Ankündigung, der Autor erscheint, wenn es gut geht, noch im Vorspann. Da spiegelt sich das Antlitz der Dekadenz! Um es aber nicht zu verhehlen, die westlich getrimmte Geschichtswissenschaft tut sich heute mit dem Begriff „Dekadenz“ schwer und lässt ihn kaum mehr gelten. Das hat sicher seinen guten Grund: Sie kränkelt nämlich selber schon an Dekadenz.

„Das Abendland, die Wiege der heutigen Weltzivilisation, fällt dem eigenen Erfolgswahn zum Opfer.“

Ernesto Perren

Das Abendland wähnt sich als Wiege der heutigen Weltzivilisation und damit als das Mass aller Dinge. Es fällt nun, gefangen in diesem auch nicht mehr universellen, also anachronistischen, Paradigma, das wie jedes Modell nur eine unter vielen Möglichkeiten darstellt, dem eigenen Erfolgswahn zum Opfer. Die Geschichtswissenschaft kann und will sich nicht selbst infrage stellen.

In diesem Geiste hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der japanisch-amerikanische Politwissenschaftler Francis Fukuyama – man darf ihn heute getrost als naiv bezeichnen – tatsächlich ein Buch mit dem vielsagenden Titel „The End of History and the Last Man“ geschrieben. Ginge es nach ihm, wäre in der Politik – die Dritte Welt spielt da scheinbar überhaupt keine Rolle – die Hegelsche Dialektik von These und Antithese ausgetrickst. Als einseitige Synthese von Ost und West hätten der demokratische Westen und vor allem die USA eine zivilisatorische Höhe erreicht, die nicht mehr zu überbieten ist und daher – nun als Mass aller Dinge – ewig währt. „Zu schön um wahr zu sein!“ Oder eher: „Gott sei Dank bleibt uns der platte „American Way of Life“ erspart. Ungefähr so haben sich vermutlich alle verwelkenden Zivilisationen selbst eingeschätzt, bevor sie mit wehenden Fahnen untergingen. Es gibt nämlich meist einen lachenden Dritten. Schon die jüngste Geschichte in Irak und Afghanistan demonstrierte ja eindrücklich, was diese „Pax Americana“ taugt.

„Die Geschichte kümmert sich nicht darum, was wir von ihr halten; sie drängt, wie es gerade jetzt deutlich zutage tritt, unerbittlich vorwärts und bleibt letztlich eine Schule für Völker.“

Ernesto Perren

Zivilisationen entstehen und verdämmern, wie alles Gewachsene, um neuen Raum zu schaffen! Genau so, wie wir es ja auch in der Natur erleben.

Text: Ernesto Perren; Fotos: Kurt Schnidrig