Ilse Carlen über ihre Faszination für „den Engländer“

Die Faszination für die Geschichte des Engländers Richard Donovan lässt Ilse Carlen nicht mehr los. (Foto: Kurt Schnidrig)

Ilse Carlen hat über Jahre die Geschichte „des Engländers“ recherchiert, der in der Zeit von 1929-1939 in einem Erdloch im Blinnental südlich des Dorfes Reckingen hauste. Angetan mit Frauenkleidern erwarb sich der Aussenseiter, Einsiedler und Querdenker Richard Donovan das Vertrauen und die Zuneigung der Reckinger Bevölkerung. Das Material über den genialen Engländer hat Ilse Carlen dem Schriftsteller Oskar Freysinger überlassen, der daraus ein literarisches Werk, einen Briefroman, mit dem Titel „Nachtwehen“ formte. Über Freysingers Werk habe ich am 24. Mai eine Blog-Geschichte geschrieben und am 5. Juni folgte eine ausführliche Besprechung von „Nachtwehen“. Eine grossartige und umfangreiche Vorarbeit dazu hat aber Ilse Carlen geleistet. Für den rro Blog Literatur erzählt sie, weshalb sie von der Geschichte des Engländers Richard Donovan bis heute fasziniert ist.

„Der Engländer – Mosaiksteine einer Biographie“. Ein druckfertiges Buch mit diesem Titel hatte Ilse Carlen bereits im Jahr 2015 geschrieben. Es handelt sich dabei um ein zauberhaft schön illustriertes Werk mit 190 Seiten. Warum sie dieses sensationelle Buch denn vor fünf Jahren nicht bereits publiziert habe, wollte ich von Ilse Carlen wissen. Doch, sie habe damals das Buch veröffentlichen wollen, erklärte mir Ilse Carlen, aber nicht als ein Werk der Literatur. Sie habe ganz einfach die Geschichte des Engländers so erzählen wollen, wie sie die Bevölkerung von Reckingen erfahren und selber noch miterlebt hatte. In einem Stil, der leicht lesbar ist, habe sie die Geschichte von Richard Donovan aufgrund der ihr bekannten Faktenlage niedergeschrieben. Als Illustrator habe sie einen pensionierten Architekten aus Zürich gewinnen können. Zuerst habe dieser bloss 2-3 Illustrationen angefertigt. „Ich hatte ihn angetrieben wie einen Sklaven“, lacht Ilse Carlen, so dass schliesslich für fast jede Seite auch eine Illustration entstanden war. Ein Probeexemplar habe sie dann in einer Gommer Druckerei anfertigen lassen, das Layout des Buches sei hoch professionell und wunderschön ausgefallen. Das Buch in einer kleinen Auflage hätte aber gegen 130 Franken gekostet. Da habe sie sich gesagt: So viel Geld will doch kein Mensch für ein Taschenbuch ausgeben! Und so viel Geld habe auch sie als Autorin nicht in ein Buchprojekt investieren wollen.

„Ich bin mit viel Widerwillen in dieses Projekt eingestiegen. Bald aber war ich von der Geschichte des Engländers ungeheuer stark fasziniert. Sie hat mich bis heute nicht mehr losgelassen.“

Ilse Carlen

Ilse Carlen kommt das Verdienst zu, die spannende Geschichte des Engländers Richard Donovan vor dem Vergessen gerettet zu haben. Schon kurze Zeit später, nachdem der Engländer des Landes verwiesen worden war, sei in Reckingen kaum mehr etwas über ihn bekannt gewesen, nicht einmal mehr sein Name, erzählt Ilse Carlen mit Bedauern. Ein Glücksfall sei ihr zu Hilfe gekommen. Der Koffer des Engländers, den dieser bei seiner Abreise im Postbüro von Reckingen zurückgelassen hatte, war nun beim Sohn des Pöstlers, bei Paul Blatter, der im Aargau wohnte, in Aufbewahrung. Paul Blatter und seine Frau Hildi Blatter hätten sich während zweier Sommer in England auf Spurensuche begeben. „Die Blatters haben Grossartiges über Richard Donovan herausgefunden“, schwärmt Ilse Carlen. Doch leider sei dann Paul Blatter erkrankt und habe das Werk über Richard Donovan nicht mehr vollenden können.

„Die Blatters schenkten mir den Koffer des Engländers mit grosser Begeisterung. Sie taten dies in der Hoffnung, dass die Erinnerung und die Geschichte des Engländers nicht verloren gehe.“

Ilse Carlen

Sie habe also viel Spannendes von Paul und Hildi Blatter „geerbt“, lacht Ilse Carlen. Damals habe sie überdies auch einen englischen Reisebuchautor getroffen, der sich den rätselhaften Inhalt des Koffers von Donovan angesehen habe. Der Reisebuchautor habe ihr aber schliesslich den Koffer vor die Haustür gestellt mit den Worten: „Diese Story muss ein Reckinger schreiben!“

Zusammenarbeit mit Oskar Freysinger. Ilse Carlen hat nun all ihre Recherchen und alles Material, das sich über die Jahre über den Engländer Richard Donovan bei ihr angesammelt hatte, dem Schriftsteller Oskar Freysinger übergeben. „Die Zusammenarbeit war für mich ein riesen Erlebnis“, schwärmt Ilse Carlen. „Ich kannte Oskar nicht, und ich wusste auch nicht, worauf ich mich da einlasse. Alles verlief aber perfekt und reibungslos.“

„Während der Arbeit an seinem Buchprojekt „Nachtwehen“ ging Oskar auf alle meine Wünsche ein, er hat alle meine Korrekturen akzeptiert, sogar auch Korrekturen inhaltlicher Art. Es war ein Traum, so zu arbeiten.“

Ilse Carlen

„Persönlich hatte ich auch schon den Plan gehabt, die Geschichte von Donovan aufzuschreiben“, gesteht Ilse Carlen. Die Niederschrift der Geschichte hätte sie aufgrund aller Fakten bewerkstelligt, die ihr zur Verfügung standen. „Als mir Oskar sagte, er mache daraus einen Roman, bin ich zuerst erschrocken“, erinnert sich Ilse Carlen. Sie habe befürchtet, dass Freysinger den Stoff verfremden könnte und dass aus der wahren Geschichte ein Phantasiekonstrukt resultieren werde. Das sei zum Glück aber nicht der Fall gewesen. „Oskar hat sich streng an meine 190 Seiten gehalten, die ein Buch hätten werden sollen…“

Das Gespräch mit Ilse Carlen offenbarte mir die immense Faszination und Begeisterung für die Geschichte „des Engländers“ von Reckingen. Wetten, dass das letzte Kapitel in dieser literaturhistorisch spannenden Story noch nicht geschrieben ist?

Hören Sie den Podcast zu Ilse Carlens Recherchen, welche die Grundlagen bilden zum Roman „Nachtwehen“ von Oskar Freysinger. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Daniel Theler)