Rilke: Die widersprüchliche Rose

Im vergangenen Herbst genoss ich das Privileg einer Privatlesung: Rilke Übersetzerin Nora Matocza las für mich aus den „Walliser Quartetten“ (Foto: Kurt Schnidrig)

Es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross. Der letzte Hochsommer-Tag verglüht. Zeit für den Spätsommer. Zeit für Rilke. Im vergangenen Herbst war es, da durfte ich mich mit den Rilke-Übersetzern Gerhard Falkner und Nora Matocza treffen. Nora Matocza lud mich darauf zu einer persönlichen Lesung in die Spycher-Literaturpreis-Wohnung in Leuk ein. Nora Matocza nahm sich die Zeit, mir zu erklären, wie sich Rilkes dichterisches Künstlertum erst an der Realisierung des Reims festmachen lässt. Darüber lässt sich trefflich fachsimpeln. Einigkeit herrscht jedoch allerorts, wenn die Rede geht von Rainer Maria Rilke als dem „Dichter des Herbstes“.

Herbstliche Wanderungen unternahm Rilke bis hinauf ins alte Dorf Miège, hinüber ins trutzige Leuk oder hinunter ins städtische Sitten. Was er sah, schlug ihn in seinen Bann und faszinierte ihn als Dichter.

„Überall wird er begrüsst von alten Türmen, stolzen Pappeln, Weingärten und den Glockenspielen der Kirchen. Überall entfaltet sich ihm die Staffelung dieser geräumigen und von ihrer Transluzidität durchleuchteten Landschaft.“

Gerhard Falkner, Berlin 2019

Rilke gehört uns Wallisern, zumindest im Herbst ist er ein Walliser. Denn es ist der wunderbar farbige Walliser Herbst, der Rilke zum „Dichter des Herbstes“ hat werden lassen. Um 1921 hatte Rilke das Wallis entdeckt und sich im Château Muzot ob Siders niedergelassen. Zuvor war er auch schon in Dänemark, Schweden und Deutschland. In der Künstlerkolonie Worpswede bei Dresden liess er sich mannigfach inspirieren, weshalb unsere deutschen Nachbarn gerne Rilke als einen der ihren betrachten. Doch das ist auch nur die halbe Wahrheit.

Geboren wurde Rilke in Prag, am 4. Dezember 1875. Er war jedoch von Haus aus gebürtiger Österreicher. Um 1900 reiste er nach Russland. Das weite, grosse Land beeindruckte ihn zutiefst. Das orthodoxe Osterfest rüttelte ihn religiös auf. Das Ergebnis dieser russischen Inspirationen ist die „Gottesmystik“, ein Sammelbegriff für geistige Gedichte und Lieder. Einen grossen Gegensatz zu Russland bildete anschliessend der Aufenthalt in der Weltstadt Paris. Rilke sog das sündige und sinnliche Leben der Grossstadt in vollen Zügen in sich auf. Der Bildhauer Auguste Rodin brachte ihm bei, wie man unter der Oberflächlichkeit dieser Welt zum Tiefen und Wahren vordringen kann. Das Gedicht „Der Panther“ ist ein charakteristisches Gedicht aus der sogenannten „Dingmystik“.

Hat „die widersprüchliche Rose“ einen Namen? Es gibt Versuche ohne Zahl, den geheimnisvollen Spruch auf dem Grabstein zu enträtseln. Auf dem Rarner Burghügel ist Rilke begraben, und da steht geschrieben: „Rose, o reiner Widerspruch, Lust niemandes Schlaf zu sein, unter so viel Lidern“. Könnte es sich bei der „widersprüchlichen Rose“ um eine Frau handeln? Der Versuch einer Erklärung sei hier gewagt. Rilke verliess Paris um in den Süden zu fahren, nach Italien. In Duino am Meer verbrachte er eine traurige Zeit und schrieb Trauergesänge, Elegien. Die Frauen wurden ihm zu einem unlösbaren Rätsel.

Die Frauen sind ein Rätsel. Einerseits sind sie wunderschön und blühend, andererseits zeigen sie aber auch ihre Dornen. „Rose, o reiner Widerspruch…“

Eine mögliche Interpretation des Grabspruchs

Ein Rilke-Film thematisiert die Rose als das Widersprüchliche in Rilkes Leben. Der Film heisst „Paula“ und er handelt von der expressionistischen Malerin Paula Modersohn-Becker. Rilke war um 1900 unsterblich in sie verliebt. Diese Liebe sollte ihm jedoch kein Glück bringen. Die romantische Beziehung endete in Trauer und Selbstzweifel: Rose, o reiner Widerspruch! Ist vielleicht die Malerin Paula Modersohn-Becker diese geheimnisvolle und widersprüchliche Rose, die Rilke unbedingt auf seinem Grabstein verewigt haben wollte?

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zu Rilkes widersprüchlichem Leben und Lieben. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Karin Imhof)

Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig