„…dann wäre Frieden auf Erden.“

Einfach loslaufen, um dem Leben neue Perspektiven zu verleihen. (Bild: Am Berglauf-Klassiker Sierre-Zinal)

Es ist schon erstaunlich, wie viele Läuferinnen und Läufer poetisch veranlagt sind. Von der Ultra-Läuferin Lizzy Hawker – sie organisiert auch bei uns im Wallis Bergläufe – stammt der Satz: „Laufen ist ein Geschenk, das uns ermöglicht herauszufinden, wer wirklich sind.“ Das sind grosse Worte. Sie kamen mir in den Sinn, als ich bei der Austragung des Berglauf-Klassikers Sierre-Zinal nach 31 Kilometern das Ziel in Zinal erreichte. Die Glücksgefühle nach einem solch grandiosen Lauf sind unbeschreiblich. Aber das Wichtigste: Diese unbeschreibliche Lust aufs Leben, diese Freude an den Herausforderungen aller Art, erhält die Jugendlichkeit und macht süchtig.

„Ich bin dafür, dass die Mächtigen der Welt sich regelmässig zum Laufen verabreden, dann wäre Frieden auf Erden.“

Tadesse Abraham, Schweizer Marathon-Rekordler

Physische Leistungen euphorisieren und schaffen Selbstvertrauen. Es ist dies die wichtigste Voraussetzung, um Herausforderungen aller Art, die das Leben für uns bereithält, erfolgreich zu meistern. Allerdings ist der Mensch keine Maschine, die beliebig „getunt“ werden kann wie ein sportliches Auto. Das „Tuning“ ist sehr individuell und es ist von grosser Wichtigkeit, auf den eigenen Körper zu hören. Ein geistiger Höhenflug kann durch eine physische Leistung ausgelöst werden. Wie stark der physische Stimulus sein muss, damit der geistige Höhenflug gestartet werden kann, ist abhängig von der physischen und psychischen Verfassung der Läuferin oder des Läufers.

„Laufen ist mehr, als nur einen Fuss vor den anderen zu setzen, es ist eine Lebenseinstellung.“

Joan Benoit-Samuelson, Marathon-Olympiasiegerin

Ein Lauf wie Sierre-Zinal symbolisiert unser Leben. Es geht zuerst streng bergauf, man muss sich eine gute Ausgangsposition erarbeiten. Hoch oben, auf dem Scheitelpunkt des Laufes (des Lebens) geniesst der Läufer eine wundervolle Aussicht. Doch dann geht es bergab und der steil abfallende Abstieg hält viele Fallstricke bereit, vergleichbar mit dem Älterwerden. Bei einer dieser Austragungen traf ich auf Michel Jordi, den erfolgreichen Schweizer Unternehmer. Nachdem er zum ersten Mal Sierre-Zinal bewältigt hatte, startete er die Produktion seiner erfolgreichen Uhrenmarke, wenig später seinen modischen Ethno-Look, der ihn weltbekannt machen sollte. Auch bei ihm hatte die physische Leistung einen geistigen Höhenflug ausgelöst.

Ein aktueller Buch-Beststeller liefert ein illustratives Beispiel für meine obigen Ausführungen. Geschrieben hat den Megaseller die Autorin Raynor Winn. Das Buch trägt den Titel „Der Salzpfad. Mit Zelt und Rucksack in ein neues Leben“ (Mairdumont Verlag, 2020). Das Buch liefert ein leuchtendes Beispiel für alle die, welche aus einer bedrängenden Lebenssituation ausbrechen möchten. Die Autorin erzählt vorerst, was ihr passiert ist: Das Haus gepfändet, die gemeinsame Zukunft mit ihrem Partner ungewiss. Nach mehr als 30 Jahren Ehe stand sie plötzlich vor dem Nichts. Auf einen Schlag war sie ohne Hab und Gut, ohne Einkommen und dazu noch mit der Diagnose einer tödlichen Erkrankung traumatisiert. In dieser ausweglosen Situation packte sie ein Zelt und alles dringend Notwendige in zwei Rucksäcke und ging auf Wanderschaft. Dreieinhalb Monate war sie unterwegs, zeltete wild und lebte von einer Ausgleichsrente.

Kein Survival-Ratgeber, aber… das Buch von Raynor Winn zeigt, wie das Laufen auch ein Ausweg aus einer problembehafteten Wirklichkeit sein kann. In knappen Dialogen und mit feiner Selbstironie erzählt die Autorin von ihrem Trip an den Rand der Gesellschaft. Während des Laufens veränderte sich ihr Blick auf die Mitmenschen und auf ihre eigene schwierige Lebenssituation. Das Rezept scheint einfach: Einfach loslaufen, um sich das Leben und den Lebenssinn zurückzuholen.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Buch: „Der Salzpfad. Mit Zelt und Rucksack in ein neues Leben“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Petra Imsand)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig