Ein Sebastiansplatz-Märchen

Im Brunnen auf dem Marktplatz war ein Delphin gesichtet worden…

Auf der „Weri“ vor der Mediathek in Brig befindet sich ein Brunnen. Darin schaukelt ein Papierschiffchen mit der Aufschrift „ALL INCLUSIVE“. Alles inklusive. Wirklich alles? Nicht alles. Da gibt es mehr. Einen Delphin. Einmal war im Brunnen auf dem Marktplatz ein Delphin gesichtet worden. Ja, Sie haben richtig gelesen: Ein Delphin! Darüber haben wir uns unterhalten. Auf dem Briger Sebastiansplatz. Bei einer oder zwei Tassen Cappuccino. Wir haben uns zufällig getroffen. Sie stellte sich schelmisch lächelnd vor als „Boomerin aus Norddeutschland“. Doktorat in Romanistik. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Unis Frankfurt und Potsdam. Seit 2003 im Oberwallis. Sie heisst Karin Hopfe. Und sie hat ein Faible für Skurriles und für Komik. Und sie erzählte mir Unglaubliches. Sie erzählte das „Sebastiansplatz-Märchen“. Auf dem Sebastiansplatz Brig. Bei einem oder zwei Cappuccini. Das Märchen vom Delphin im Brunnen. Am nächsten Tag schickte mir Karin das Märchen fein säuberlich verschriftlicht.

„Schön war’s gestern auf dem Sebastiansplatz mit Dir ins Blaue zu reden. Im Anhang findest Du mein Sebastiansplatzmärchen.“

Karin Hopfe

„Einmal verbreitete sich in der kleinen Stadt eine sensationelle Nachricht. Im Brunnen auf dem Marktplatz war ein Delphin gesichtet worden. Dummes Zeug, sagten die wohlsituierten Bürger, denen Sensationen von jeher suspekt waren. Cool, meinten die Jugendlichen, versammelten sich in Gruppen am Brunnen und versuchten, Selfies von sich und dem Delphin aufzunehmen. Aber der Delphin zeigte sich an Selfies nicht sehr interessiert und tauchte unter, was im Gegenzug das Interesse der Jugendlichen am Delphin sinken liess und sie den Rückzug antraten. Kaum waren die Besucher verschwunden, machte der Delphin im Brunnen einen Sprung und schnatterte vor sich hin. Experten kamen, um der Sensation, die sie Phänomen nannten, auf den Grund zu gehen. Sie nahmen am Brunnenrand Aufstellung und diskutierten bedeutsame Fragen, z.B. wie der Delphin in den Brunnen gekommen war, wie er im Brunnenwasser überleben konnte und, ja richtig, wovon er überhaupt lebte. „Er braucht Futter“, bemerkte ein pragmatisch orientierter Zoologe. Ein Jurist mit dem Spezialgebiet Tierrecht griff den Gedanken auf: „Wir müssen eine Eingabe ans Stadtparlament machen. Eine Eingabe mit besonderer Dringlichkeit. Der Delphin muss gefüttert werden.“ Allseits zustimmendes Gemurmel, während der Jurist seine Aktentasche fester unter den Arm klemmte und, schon im Fortgehen, verkündete: „Ich schreibe eine Eingabe.“ Abermals zustimmendes Gemurmel, der Delphin drehte unter Wasser weiter seine Kreise, die Experten diskutierten noch eine Weile, dann verliessen auch sie den Ort der Sensation – oder, wie sie es nannten, des Phänomens.

Wie war der Delphin in den Brunnen gekommen? Die Experten verliessen den Ort des Phänomens…

Unterdessen war es Abend geworden. Der Marktplatz hatte sich geleert, und im Dämmerlicht näherte sich dem Brunnen ein Mädchen, nicht älter als zehn Jahre, mit einer prallgefüllten Plastiktüte. Nichts an diesem Mädchen wäre besonders bemerkenswert gewesen, hätte sie nicht eine rote Kappe getragen und einen Wolf in ihrer Begleitung gehabt. Am Brunnen angekommen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, lugte über den Rand und rief: „Manntje, Manntje Timpe Te…“ Weiter kam sie nicht, denn schon hob der Delphin den Kopf aus dem Wasser, schnatterte zweimal und sprach: „Es wurde aber auch Zeit, dass du kommst. Ich habe Hunger.“ Der Wolf, der sich zu Füssen des Mädchens niedergelassen hatte, bellte wie zur Bestätigung. „Sorry“, sagte das Mädchen, während es am Knoten der Plastiktüte nestelte, „es ging nicht früher. Aber jetzt…“ Der Knoten war gelöst und das Mädchen leerte den Inhalt der Tüte in den Brunnen. Diesen Vorgang verfolgte der Delphin mit aufmerksamem und zunehmend anerkennendem Blick, dem nicht entgangen war, dass sich aus der Plastiktüte nicht nur Wasser, sondern auch allerhand kleine Fische in den Brunnen ergossen. „Gut“, meinte er dann zu dem Mädchen, „das sollte fürs Erste reichen. Und was willst du jetzt?“ „Ach weisst du, Manntje, Manntje, meine Oma wohnt da draussen am Hang in einer elenden Hütte und immerzu streift da ein Jäger herum und behauptet, er würde auf sie aufpassen und vor dem Wolf schützen.“ Zu Füssen des Mädchens ertönte ein leises Knurren, das Mädchen sah hinab zum Wolf, gab ein leises, beruhigendes Geräusch von sich und fuhr dann fort: „In Wirklichkeit nervt er aber nur – der Jäger, meine ich. Also, wenn die Hütte ein hübsches Einfamilienhaus wäre und dieser Jäger auch nicht mehr käme, das wäre schon toll.“ Der Delphin hatte ihr aufmerksam zugehört, dann sagte er: „Okay, das lässt sich machen. Geh nur zu deiner Oma, sie wohnt jetzt in einem Haus mit allem, was man braucht, und der Jäger streift nicht mehr dort herum. Versprochen. Aber jetzt verschwinde und komme nicht wieder, um dir mehr zu wünschen. Das könnte schiefgehen. Für den Moment habe ich Futter, und den Rest erledigen die Experten und der Stadtrat. Danke für die Fische und Tschö mit Ö.“ Das war’s.

Rotkäppchen, denn um niemand anders handelte es sich, dankte, winkte noch einmal kurz und ging dann mitsamt ihrem Wolf zur Grossmutter ins neue Haus. Dort lebten die drei glücklich und zufrieden, bis Rotkäppchen erwachsen wurde und ihrer eigenen Wege ging. Auch der Delphin lebte im Brunnen der kleinen Stadt glücklich und zufrieden, wurde vom Stadtrat gefüttert und war bis an sein Lebensende eine Touristenattraktion.“

Der Delphin wurde vom Stadtrat gefüttert und war eine Touristenattraktion.

Soweit das Sebastiansplatz-Märchen vom Delphin im Brunnen. Erzählt hat es mir Karin Hopfe. Auf dem Briger Sebastiansplatz. Bei einem Cappuccino oder zwei. Übrigens hat Karin Hopfe auch schon einen Erzählband herausgegeben mit dem Titel „Frei erfunden“. Ob dieser Titel wohl auch für das Sebstiansplatz-Märchen zutrifft? Auf jeden Fall: Vielen Dank für das Märchen, liebe Karin, und auch für den Cappuccino. Auf dem Briger Sebastiansplatz.

Text: Karin Hopfe (Märchen) und Kurt Schnidrig. Fotos: Kurt Schnidrig.