Verse zum Herbstbeginn

In Rilkes Garten mit dem Schlösschen Muzot im Hintergrund. (Foto: Kurt Schnidrig)

Das Ende des Sommers und der Übergang zu herbstlich-stürmischen Tagen erfüllt die „Dichter des Herbstes“ damals wie heute mit Melancholie und mit tiefsinnigen philosophischen Gedanken, die sie in Verse kleiden. Der Zermatter Schriftsteller Ernesto Perren hat mir für den rro Blog Literatur ein wundervoll tiefsinniges Gedicht zukommen lassen. Das Gedicht handelt von einem Übergang vom Hüben zum Drüben, von der Hier-Welt zu einer „anderen Welt“, nach der wir uns sehnen, weil sie erfüllt ist von Licht und Musik. Ein Gedicht, das ganz zauberhaft in die herbstliche Übergangszeit hineinpasst.

Hüben und Drüben

Wer eine Tür zur andern Welt / Behutsam aufgeschlagen, / Der kann, was hier ihn immer hält, / Ihr nie mehr ganz entsagen!

Und wer Musik von dort her hört, / Mag – hin und her gerissen – / Geheimnisvoll von ihr betört / Ihr Zauber nicht mehr missen!

Und wem ein Licht aus jenem Raum / Im Herzen aufgegangen / Der möcht‘, erfüllt von diesem Traum, / Nur noch dorthin gelangen.

Ernesto Perren

Ernesto Perren ist Bergschriftsteller, Essayist und Lyriker. Die Spannung zwischen Berg und Tal und zwischen Natur und Kultur inspiriert ihn zum Schreiben.

In der Literaturgeschichte kommt Rainer Maria Rilke zuweilen auch das Attribut „Dichter des Herbstes“ zu. Sein Werk gründet auf philosophischen Gedanken. Nicht wenige Menschen haben Angst, dass sie den Sommer des Lebens nur kurz oder gar nicht geniessen können, und dass der Herbst ihres Lebens viel zu früh kommt. Viele tun so, als wäre ihr Leben ein einziger Sommer.

In Kreisen und Ringen, die immer grösser werden, entwickelt sich die Welt weiter. Diesen Gedanken hat Rilke treffend in seinem „Stundenbuch“ festgehalten.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.“

Rainer Maria Rilke

Rilke war ein ewiger Sucher. In jedem Ding, in jeder Sache suchte er ein gottähnliches Wesen. Und letztlich hat er wohl auch sich selbst gesucht. Wer bin ich? Was will ich? Wohin gehe ich? Im Stundenbuch schreibt er: „Ich kreise um Gott, den uralten Turm, und ich kreise jahrhundertelang; und ich weiss nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein grosser Gesang.“

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum „Dichter des Herbstes“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig