Gesprächsrunde: „Wo ist Heimat?“

Mit Christine Pfammatter und Sofia Ibrahim durfte ich über den oftmals arg strapazierten Begriff „Heimat“ debattieren. (Bild: Mediathek Wallis in Brig)

Heimat ist überall dort, wo man sich wohl fühlt. In diesem Sinn können moderne Menschen über gleich mehrere „Heimaten“ oder „Wohlfühlorte“ verfügen. Diese „moderne“ Auffassung ist jedoch keineswegs neu. Die Romantiker im beginnenden 19. Jahrhundert vermittelten in ihren Gedichten bereits die Botschaft, dass der Heimatbegriff vom rein territorialen Denken loszulösen sei. Sie forderten nebst der räumlichen Dimension des Begriffs auch noch eine zeitliche, soziale, kulturelle und vor allem auch spirituelle Dimension. Nach romantischer Auffassung ist „Heimat“ demnach überall dort, wo man sich zu Hause, heimisch und wohl fühlt. Bei den Dichtern der Romantik widerspiegelte etwa eine zauberhafte Mondnacht das ewige Zuhause.

Es war als hätt‘ der Himmel / Die Erde still geküsst, / Dass sie im Blütenschimmer / Von ihm nun träumen müsst‘. /

Die Luft ging durch die Felder, / Die Ähren wogten sacht, / Es rauschten leis‘ die Wälder, / So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.

Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857)

Meine Gesprächspartnerinnen erzählten einleitend von ihrem Geburtsort, von der räumlichen Dimension des Heimat-Begriffs also. Das Aufwachsen in Alexandria, der zweitgrössten Stadt Ägyptens, war für Sofia Ibrahim traumhaft schön, auch wenn die Reglementierungen und Einschränkungen in der arabischen Welt sehr viel massiver sind als etwa in Leuk, wo Christine Pfammatter aufgewachsen ist. Charakteristisch aber ist wohl, dass die Jahre der Kindheit in paradiesischer und glücklicher Erinnerung bleiben. Der Auszug aus Ägypten erfolgte allerdings für Sofia Ibrahim gezwungenermassen, das Regime in Ägypten duldete die freiheitlich-künstlerischen Bestrebungen ihres Mannes nicht. Der Wegzug aus der Stadt ihrer Kindheit kam einer „Vertreibung aus dem Paradies“ gleich. Für Christine Pfammatter jedoch mag die Umsiedelung nach Berlin mit der Ausübung ihres Berufs als „Schriftstellerin“ bereichernd und anregend gewesen sein.

Heimat, das ist auch „die gute alte Zeit“. Ägypten ist ein Land mit einer antiken Hochkultur. Die Geschichte der Pharaonen und der Pyramiden, dieser frühen Hochkultur mit ihren Märchen, Legenden und Sagen hat sich wundervoll und tief in die Erinnerung von Sofia Ibrahim eingegraben. Historie widerspiegelt die zeitliche Dimension des Heimat-Begriffs. Sie tritt jedoch nicht bloss als Erinnerung auf wie bei Sofia Ibrahim. Die Historie kann auch hilfreich, inspirierend und motivierend sein beim Ankommen in einer fremden und neuen Welt, so wie für Christine Pfammatter in der geteilten Stadt Berlin.

Das Heimischwerden in der neuen Heimat gibt’s oftmals nicht umsonst. Sofia Ibrahim erzählte von ihren Betätigungen in der neuen Oberwalliser Heimat, Betätigungen, die zum einen existenzsichernd waren, zum anderen aber auch dazu beitrugen, die so wichtigen menschlichen Kontakte im Oberwallis zu knüpfen. Um sich die Existenz bei uns zu sichern und um die soziale Integration zu schaffen, arbeitete Sofia Ibrahim in ganz unterschiedlichen Berufen. Die gelernte Mathematikerin mit Universitäts-Abschluss jobbte auch im Gastgewerbe, in sozialen Einrichtungen und in der Schule. Christine Pfammatter dagegen fiel die Integration leichter, sie fühlt sich „angekommen“ in Berlin, und dies in jeder Beziehung.

Integration im neuen Land gelingt oftmals vor allem über das Erlernen der fremdem Sprache. In diesem Sinne liesse sich Sprache auch als „geistige Heimat“ definieren. Der „sprachliche Abstand“ zwischen der Mutter- und Vatersprache Arabisch und der neuen Zielsprache Deutsch war dabei für Sofia Ibrahim bedeutend grösser als bei Christine Pfammatter, denn sie hatte mit dem Walliserdialekt ja auch noch eine weitere „Fremdsprache“ zu erlernen. Sofia Ibrahim findet den Walliser Dialekt jedoch ausgesprochen „lustig“, besonders die Endsilbenvokale o und u bei Nomen und Verben. Christine Pfammatter möchte jedoch nicht so weit gehen und sich die Sprache der Berliner, die „Berliner Schnauze“, aneignen. Sie bleibt beim Schweizerhochdeutsch Dürremattscher Prägung.

Kontakte in der neuen Heimat zu knüpfen fällt auch kommunikativen Menschen wie Sofia Ibrahim nicht leicht. Im Gegenteil, nicht selten hatte sie vor allem zu Beginn sogar unter Anfeindungen und unverhohlener Ablehnung zu leiden. Für Christine Pfammatter öffneten sich die Türen in der Grossstadt Berlin ebenfalls nicht ohne eigenes gefühlvolles Taktieren und nicht ohne die Bereitschaft, auch Liebgewordenes aus der alten Heimat aufzugeben.

Zwei ganz unterschiedliche Frauen vertraten in der Gesprächsrunde sehr unterschiedliche Standpunkte. Sofia Ibrahim kam aus der ägyptischen Grossstadt Alexandria zu uns in die dörfliche Enge, während Christine Pfammatter den umgekehrten Weg ging. Als „Fremde vom Land“ aus dem kleinen Dorf Leuk versucht sie in der grossen Stadt Berlin heimisch zu werden. Leidenschaftlich, wehmütig und mit viel Herz vermisst Sofia Ibrahim ihre Verwandten und Bekannten, insbesondere ihren Vater, der in Alexandria zurückbleiben musste. Es sind oftmals gerade auch die kleinen Dinge des Lebens, welche die beiden Frauen in der Fremde vermissen. Sofia Ibrahim vermisst die wunderbar mundende Mango-Frucht aus Ägypten, die es so bei uns schlichtweg nicht zu kaufen gibt. Christine Pfammatter freut sich manchmal auch in Berlin auf ein Raclette-Essen nach Walliser Art oder auf eine gute Flasche Wein.

Am Ende ihrer Träume jedoch sind die beiden Frauen mit Bestimmtheit noch nicht angekommen. Während Christine Pfammatter für eine kurze Auszeit bereits weitergezogen ist nach New York, Paris und Afrika, möchte Sofia Ibrahim liebend gerne hier bei uns ihren heiss geliebten Beruf als Mathematikerin ausüben. Einstweilen steht ihr noch die fehlende Anerkennung ihrer Diplome, die sie in Ägypten erworben hat, im Weg. Trotzdem schlage ihr Herz auch noch für ihre alte Heimat, gesteht Sofia Ibrahim. Immer noch verfolge sie mit grossem Interesse, was sich so alles in Ägypten tut.

Aus der früheren „Heimat“ sind „Heimaten“ geworden. Heimat ist heute oft einzig noch im Plural zu haben, als „Wohlfühlorte“. Die frühere Heimat im patriotischen Sinn ist zu einer Patchwork-Heimat mutiert. Eine Patchwork-Heimat lässt sich mit einem Cocktail vergleichen, den man sich an der „Heimat-Bar“ mixt. Was aber müsste in diesen Heimat-Cocktail hinein? Für Christine Pfammatter ist es ein guter Walliser Wein. Für Sofia Ibrahim ist es alles, an dem ihr Herz hängt.

Hören Sie passend dazu den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zu Christine Pfammatters Buch mit dem Untertitel „Nomadin zwischen Berlin und Leuk“ aus dem Jahr 2017. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Karin Imhof)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig