Eine Biblio-Therapie gefällig?

Auf der Couch mit einem Buch als Therapeuten: Die Heilkraft durch Lesen ist erwiesen. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Laut dem Deutschen Ärzteblatt liegen wissenschaftliche Studien vor, die belegen, dass eine sogenannte Bibliotherapie erfolgreich ist bei chronischen Schmerzen, bei Depressionen, bei Verhaltensstörungen und sogar bei Krebsleiden. Die Ärztin, Poesietherapeutin und Professorin für Journalistik Silke Heimes geht gar noch einen Schritt weiter. In ihrem Buch „Lesen macht gesund“ (Hrsg. Vandenhoeck & Ruprecht, Taschenbuch, 143 Seiten) zeigt sie die vielen heilenden Funktionen des Lesens auf: Bücher können uns beruhigen und trösten, sie können uns zu neuen Lebensentwürfen motivieren und sie können zu mehr Selbsterkenntnis beitragen.

„Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu einem Buchhändler.“

Philippe Djian, französischer Schriftsteller (*1949)

Warum hilft das Lesen? Wann ist eine Bibliotherapie angebracht? Wissenschaftler schreiben den heilenden Effekt dem sogenannten „limbischen System“ zu: Beim Lesen wird das limbische Hirnareal aktiviert, es ist dies jener Teil unseres Gehirns, der uns Emotionen spüren und uns wieder zuversichtlich und lebendig werden lässt. Die Bibliotherapie fusst bereits auf einer frühen Tradition, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht. Überliefert ist das Rezept eines Arztes namens Maimonides, der im Jahr 1198 die Anregung vitaler Kräfte durch Lesen empfahl. In England kann man sich heute vom Arzt Bücher verschreiben lassen und das Rezept in der Stadtbücherei einlösen. Mittlerweile ist die Bibliotherapie auch in unseren Breitengraden angekommen. Seit der Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie“ setzen sich auch hierzulande therapiebedürftige Menschen zusammen mit „Doktor Buch“ auf eine Couch.

„Das Buch faszinierte ihn, oder, genauer gesagt, es bestärkte ihn. Es sprach das aus, was er gesagt haben könnte, hätte er Ordnung in seine konfusen Gedanken bringen können.“

Der Protagonist Winston Smith in George Orwells „1984“.

Die Bibliotherapie ist immer in einen umfangreichen Therapieprozess eingebettet. Geschichten und Erkenntnisse aus der Bibliotherapie lassen sich weiter vertiefen mit der lösungsorientierten Therapie. Überall dort, wo die psychologische Therapie an ihre Grenzen stösst, setzt die Therapie durch das Lesen von Büchern, die Bibliotherapie also, ein.

Beispiele aus der bibliotherapeutischen Praxis mögen den Sachverhalt illustrieren. Entsprechend den Bedürfnissen des Klienten werden bestimmte Romane ausgewählt. Bei Liebeskummer soll etwa „Das fliehende Pferd“ von Martin Walser helfen. „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann wird zurzeit häufig eingesetzt zur Motivation für neue Lebensentwürfe. Wer seinem Leben neuen Sinn verleihen möchte, dem kann zum Buch „Der Sommer ohne Männer“ von Siri Hustvedt geraten werden. Auch der Klassiker „Siddharta“ von Hermann Hesse kann einer neuen Sinngebung förderlich sein. Zur Behandlung von Depressionen empfiehlt sich die „Schachnovelle“ von Stefan Zweig.

„Ein Buch ist eine Zusammenarbeit von demjenigen, der liest, und dem, was gelesen wird, und bestenfalls ist dieses Zusammentreffen eine Liebesgeschichte wie jede andere.“

Siri Hustvedt in „Der Sommer ohne Männer“

Den Blick weiten. Eine Bibliotheraphie ist besonders dann erfolgreich, wenn die Erkenntnisse und Erlebnisse während des Lesens gemeinsam diskutiert und vertieft werden. Therapeuten sprechen dabei von einer „Ressourcen-Aktivierung“. Welche Auswirkungen hat das Gelesene auf das eigene Leben? Welche Aha-Effekte, die während des Lesens auftauchten, können in die eigene Lebensführung umgesetzt werden? Eine Bibliotherapie kann Inspiration sein, Neues zu wagen, sich aus der Komfortzone zu bewegen und sich neue Welten zu erschliessen. Franz Kafka schrieb: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig