Buchpreis war (k)eine Überraschung

Die Jury für den Schweizer Buchpreis 2020 bewies dieses Jahr viel Mut (Archivbild: Theater Basel / Kurt Schnidrig)

Die Schlagzeilen der grossen Schweizer Nachrichtenagenturen verrieten am Sonntagabend pures Erstaunen: „Überraschung – das ist der Schweizer Buchpreis 2020 in jeglicher Hinsicht. Denn niemand hatte die junge Autorin Anna Stern auf dem Schirm“, vermeldete etwa die dpa Schweiz in grossen Lettern. Wirklich niemand? Sagen wir es geradeheraus: Wer die Bücher auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises genau gelesen hatte, wer also einzig von den eingesandten Werken ausging, der musste einfach Anna Stern und ihren grossartig experimentellen Roman „das alles hier, jetzt.“ favorisieren.

„Meine Favoritin wäre die Autorin Anna Stern mit ihrem Roman „das alles hier, jetzt.“ Phantasievoll schreibt sie und mit Leichtigkeit und trotzdem mit philosophischem Tiefgang.“

Podcast und Blog zur Sendung Literaturwelle auf rro vom 29. Oktober 2020

Der Literaturbetrieb kennt oftmals eigene Gesetze. Als Rezensent und als Literaturkritiker liegt man da oftmals falsch. Viele hatten auf Charles Lewinsky als Preisträger 2020 getippt. Lewinsky ist wohl der mit Abstand produktivste Schweizer Autor, ein Dauerbrenner. Weil der Buchpreis jedoch für ein einziges Buch verliehen wird, hatte Lewinsky dieses Jahr die schlechteren Karten. Sein aktueller Roman „Der Halbbart“ ist ein 700-seitiger „Schunken“ aus dem finsteren Mittelalter, eine Fleissarbeit sicher, aber (aus meiner Sicht) reichlich konstruiert. Auch aus diesem Grund habe ich Anna Sterns Roman favorisiert.

„Abschied und Erinnerung“ – so habe ich meine Blog-Geschichte vom 29. Oktober betitelt und darin Anna Stern und ihren Roman favorisiert. Beeindruckt hat mich vor allem Anna Sterns radikaler Schreibstil. Auf den ersten Blick hin wirkt vieles irgendwie nicht zu Ende gedacht, einiges bleibt sogar offen, manches wirkt eilig hingeworfen, unbeendet, unruhig, flüchtig, orientierungslos. Des Lesers Vorstellungskraft ist gefordert.

„Wenn es aber gelingt, die eigene Imagination, den so ganz eigenen Film im Kopf, abzuspulen, dann tun sich Bilderwelten auf, fantastische Husarenritte in die eigene Erlebnis- und Gefühlwelt werden möglich, dann entstehen surreale Bilder und Erinnerungen im Kopf, kraftstrotzend, plastisch und überwältigend.“

rro Blog Literatur: „Abschied und Erinnerung“ vom 29.10.2020 (Quelle: literatur.rro.ch)

Einen mutigen, konsequenten und experimentellen Roman legt uns Anna Stern vor. Ihre Leser*innen verwickelt sie in ein wahres Sprachabenteuer. Das mag nicht jedermanns Sache sein. Anna Sterns Erzähl-Feuerwerk fordert uns viel ab. Es kann aber lohnend sein, sich auf Anna Sterns Erzähl-Experiment einzulassen. Die Juror*innen des Schweizer Buchpreises haben dies am heutigen Sonntag, 8. November, ebenfalls so gesehen.

„Anna Stern hat einem der ältesten Themen der Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen.“

Aus der Begründung der Jury für den Schweizer Buchpreis

„das alles hier, jetzt“ (Elster & Salis Verlag) handelt vom Tod eines geliebten Menschen, und die Autorin „erzählt mit grosser experimenteller Kraft und zugleich mit hoher sinnlicher Intensität“, schreibt die Jury. Fast beschwörend werde die Vergangenheit wachgerufen und die Leserinnen und Leser in den Erinnerungsprozess einbezogen. „Das Erzählverfahren ist höchst originell“, gerät die Jury gar ins Schwärmen. Nicht nur komme der Text über die gesamte Strecke ohne jede Gender-Fixierung der Figuren aus, es sei auch ein Roman in zwei Spuren, „auf den linken Buchseiten die Gegenwart der Trauer, rechts die erinnerte Vergangenheit einer gemeinsamen Kindheit und Jugend – bis alles auf ein fulminantes Roadmovie-Finale zusteuert.“ Zusammenfassend lobt die Jury Anna Sterns Roman als „gleichermassen intimer wie kunstvoller Roman über zutiefst menschliche Erfahrungen.“

Wissenswertes zum Schweizer Buchpreis 2020: Das Preisgeld für Anna Stern beträgt 30’000 Franken, die weiteren Nominierten erhalten je 3’000 Franken. Die öffentliche Preisverleihung im Theater Basel war „coronabedingt“ abgesagt worden. Das Geld, das die Trägerschaft normalerweise für den Apéro und das anschliessende Essen zu Ehren der Nominierten ausgibt, wurde dieses Jahr den Autor*innen ausbezahlt. Die Expertenjury wird regelmässig personell erneuert. Mitglieder der Jury für den Schweizer Buchpreis 2020 waren: Tommy Egger (Buchhändler), Daniel Graf (Kulturredakteur), Annette König (Literaturbloggerin), Christine Richard (freie Kritikerin), Hubert Thüring (Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel). Präsident Hans Georg Signer bedauerte in seiner Ansprache vor kleinem Publikum die Einschränkungen aufgrund der Coronavirus-Pandemie, ohne sie jedoch kritisieren zu wollen. Aber: „Die Begegnung fehlt“, resümierte der Präsident.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zur Shortlist und zur persönlichen Favoritin des rro-Literaturexperten. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Petra Verena Wysseyer)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig