Schweizer Erzählnacht

Die Schweizer Erzählnacht wurde 1990 im Oberwallis ins Leben gerufen. (Bild: Seminaristinnen präsentieren das Erzählnacht-Buch „Quere Geschichten“ / Kurt Schnidrig)

Die Schweizer Ezählnacht gilt als der grösste Kulturanlass der Schweiz. In den vergangenen Jahren fanden schweizweit jeweils an die 700 Veranstaltungen mit jährlich rund 70’000 Teilnehmer*innen statt. Seit 1990 kommen kleine und grosse Erzähler*innen jeweils am zweiten Freitag im November zusammen. Das gemeinschaftliche Erleben von Geschichten in einem anregenden Rahmen ist eine sehr wirksame Form der Leseförderung und bietet Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen lustvolle Zugänge zum Lesen.

Als erster nationaler Projektleiter durfte ich im Jahr 1990 die 1. Schweizer Erzählnacht zum Thema „Quere Geschichten“ aus der Taufe heben. Damals, in den 1980er Jahren, war ich Deutschlehrer am Oberwalliser Lehrer- und Kindergärtnerinnenseminar. Zusammen mit einem Dutzend motivierter junger Frauen formte ich aus der bereits bestehenden „Oberwalliser Märlinacht“ die Schweizer Erzählnacht. Mittlerweile haben das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM, Bibliomedia Schweiz und UNICEF Schweiz das Zepter übernommen.

Oberwalliser Gemeinden waren bei allen 30 bisherigen Austragungen mit dabei. In der Oberwalliser Mittelschule OMS hat man erkannt, wie wertvoll die Durchführung der Erzählnacht besonders auch für angehende Lehramtskandidat*innen ist. Das Oberwallis als Wiege der grössten Kulturveranstaltung der Schweiz – ein wenig stolz sein dürfen wir alle. Wenn ich auf die bisherigen Erzählnächte zurückblicke, dann geschieht dies mit einem Gefühl von tiefer Dankbarkeit. Dankbar bin ich allen Weggefährtinnen und -gefährten, die Jahr für Jahr mithelfen, geschichtenhungrige Kinder, Jugendliche und Erwachsene am zweiten Freitag im November während einer langen Erzählnacht glücklich zu machen.

Eine Erzählgruppe macht sich für die lange Nacht der Geschichten bereit (Quelle: Kurt Schnidrig)

„So ein Glück! Che felicità! Quel bonheur! Tge ventira!“ – So lautet das Motto der diesjährigen Erzählnacht am Freitag, 13. November in allen vier Landesteilen. In der aktuellen Situation ist es zwar nicht möglich, eine herkömmliche Schweizer Erzählnacht durchzuführen. Die Veranstalter*innen feiern das Erzählen an diesem Tag deshalb mit kreativen neuen Formaten. Dieses Jahr ist alles anders. Die aktuelle Corona-Krise stellt auch für die Bibliotheken, Schulen, Buchhandlungen und für andere lokale Veranstalterinnen und Veranstalter der Erzählnacht eine Herausforderung dar. So findet das Erzählen dieses Jahr innerhalb der eigenen Schulklasse, im Rahmen eines Erzählmorgens, während einer „Glückswoche“, im Kreis der Familie oder als Onlinelesung statt. Die Veranstalter*innen sind für ihren jeweiligen Erzählnachtanlass verantwortlich und stellen sicher, dass die Vorgaben der zuständigen Behörden und des BAG eingehalten werden.

Die Schweizer Erzählnacht 2020 besteht in der Freitagnacht, am 13. November, aus vielen kleinen und virtuellen Veranstaltungen, die zusammengenommen den nationalen Charakter des Leseförderungs-Projekts unterstreichen und das Glück des gemeinsamen Lese- und Erzähl-Erlebnisses zelebrieren. Es versteht sich von selbst, dass auch wieder im Oberwallis, der Wiege der Schweizer Erzählnacht, die lange Nacht der Geschichten gefeiert wird.

Das Erzählbuch zur 1. Schweizer Erzählnacht, die mit dem Motto „Quere Geschichten“ begeisterte (Quelle: Kurt Schnidrig)

Mein Erzählbuch „Quere Geschichten“ habe ich dieses Jahr neu aufgelegt. Darin finden sich auch Geschichten zum diesjährigen Thema „So ein Glück!“ Als Herausgeber des Buches habe ich Geschichten von zwei Dutzend Autorinnen und Autoren in einem Sammelband vereinigt. Es sind dies Geschichten, die Mut machen, einen eigenen und aussergewöhnlichen Weg zu gehen. Geschichten, die diese Welt ein klein wenig verkehrt herum drehen lassen. (Kurt Schnidrig: Quere Geschichten. Keine Angst vor grossen Tieren. Unterstützt vom Schweizerischen Bund für Jugendliteratur).

Eine Geschichte zum Motto „So ein Glück!“ aus dem Erzählband „Quere Geschichten“ gefällig? Persönlich habe ich eine Geschichte geschrieben, die den Titel „Medizinmann in Hinterdorf“ trägt und von Kindern handelt, die in ihrem Dorf nicht mehr glücklich sind, weil überall Aufsichtspersonen und Kontrolleure die Herrschaft übernommen haben. Seither stehen überall im Dorf nur noch Verbote: Kinder dürfen auf der Strasse nicht mehr Fahrrad fahren, sie dürfen ihre Freizeit nicht mehr in Feld und Wald verbringen. Fast alles ist reglementiert und für Kinder verboten. Bis eines Tages ein fremder Erfinder auftaucht. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich im Dorf die Nachricht, dass der Fremde eine Glücksformel entdeckt habe. Mit Hilfe einer chemischen Formel braue er ein Getränk zusammen, das glücklich mache. Die Kinder schnappen sich eines seiner Fläschchen und reichen den glücklich machenden Trunk weiter an die strengen Aufsichtspersonen. Was dann passiert, ist unbeschreiblich: Wie auf einen Schlag werden plötzlich alle glücklich! Die Kinder dürfen wieder den Rasen betreten, sie dürfen wieder auf der Strasse Fahrrad fahren, und sie dürfen ihre Freizeit wieder in Feld und Wald verbringen. Die Pointe der Geschichte allerdings verblüfft: Im Getränk war lediglich roter Himbeer-Sirup. Und die Botschaft der Geschichte: Um glücklich zu sein, braucht es oftmals nur die richtige Einstellung und ein wenig guten Willen. Häufig vertrauen wir nämlich den Zahlen und den Formeln mehr als den guten Gefühlen, die tief in uns schlummern.

Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig