Charles Lewinsky: „Der Halbbart“

Das sogenannt „finstere Mittelalter“ hatte auch seine schönen Seiten (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Charles Lewinsky ist wohl einer der produktivsten Schweizer Autoren. Viele kennen ihn womöglich aus dem Fernsehen, wo er Sitcoms wie „Fascht e Familie“ produzierte, oftmals tat er dies mit viel Witz und Humor. Ganz anders geht es in seinen Romanen zu und her. Nach dem Roman „Der Stotterer“, in dem sich der Protagonist gegen die von seinen Eltern aufoktroyierte Welt der Religion schreibend zur Wehr setzt und gar Rachephantasien entwickelt, taucht Autor Lewinsky mit seinem neuen Roman „Der Halbbart“ nun ganz ab ins sogenannt „finstere Mittelalter“. Das Leben ist rau und brutal, die Kirche übermächtig und der Aberglaube in der Bevölkerung abgrundtief. Doch war das Mittelalter tatsächlich so „finster“ und „dunkel“?

Heutzutage boomen Mittelalter-Märkte, welche nicht selten ein sehr ausgewogenes Bild dieser zeitlich überlangen Epoche vermitteln. Das Mittelalter umfasst eine neunhundertjährige Epoche zwischen dem Ende der Antike (etwa. 6. Jahrhundert) und dem Beginn des Zeitalters der Renaissance (etwa Mitte des 15. Jahrhunderts). Diese Epoche wirklich rau, grausam und finster zu nennen, ist zu einseitig. Wer ans Mittelalter denkt, dem fallen zwar überwiegend Räuber, Wegelagerer, Kriege, Pest, Hungersnöte, Kreuzzüge und ungehobelte, bildungsferne Menschen ein. Diese Assoziationen befeuern freilich die sogenannt „historischen“ Geschichten und Romane, welche uns ein schauriges Gruseln bescheren und beim Lesen kalte Schauer des Schreckens den Rücken hinunter jagen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Das Mittelalter war auch die Zeit, in der Überlieferungen von antiker Literatur, Wissenschaft und Kultur von schreibkundigen Mönchen weitergegeben wurden. Universitäten und Parlamente entstanden, in den Städten etablierte sich der Stand der Bürger. Es wurde auch gedichtet und in der Musik entwickelten sich neue Stile und Richtungen.

„Der Anstoss zur Geschichte war ein einziges Wort. Ich las irgendwo, dass die Hellebarde früher Halparte geheissen habe, und mein wortspielsüchtiger Kopf dachte sofort: Diese Waffe muss ein Mann mit einem halben Bart erfunden haben. Und dann fing ich an, nachzudenken…“

Charles Lewinsky über die Idee zu seinem Roman „Der Halbbart“

Charles Lewinsky ist einer, der das Blaue vom Himmel heruntererzählen kann. Einer, der sich die Wahrheit zurecht biegt, so dass sie prächtig zwischen zwei Buchdeckel passt. In seinem Roman „Der Halbbart“ geht es zu wie bei Geschichten aus 1001 Nacht. Als Ich-Erzähler kombiniert er eine Geschichte an die andere, es entsteht ein Konstrukt von Erlebtem, Erdachtem und Historischem. Die Geschichten sind es, die bei Lewinsky schlussendlich die Wahrheit zusammenschustern. Wie es wirklich war, ob nun das Mittelalter wirklich so grausam, rau und dunkel war, das ist für Lewinsky nebensächlich.

„Mir ging es um das Erzählen an sich, und welche Rolle Geschichten beim Verfertigen der Wirklichkeit spielen. Wenn ich zurückblicke, scheint mir, dass das in fast allen meinen Romanen ein zentrales Thema war.“

Charles Lewinsky über seinen Roman „Der Halbbart“

„Der Halbbart“ spielt im 14. Jahrhundert in einem kleinen Dorf in der Talschaft Schwyz. Erzählt wird die Geschichte von Sebi, der eigentlich Eusebius heisst und 13 Jahre alt ist. Der Autor erzählt aus Sebis naiver Welt, die von Gewalt, Entbehrungen, Aberglauben und Egoismus geprägt ist. Trotzdem heisst die Geschichte „Der Halbbart“. Dabei handelt es sich nicht um den Protagonisten Sebi, sondern um einen Fremden, der plötzlich im Dorf auftaucht. Früher hatten die meisten Menschen im Dorf einen Spitznamen, den sich die Dorfbewohner aufgrund von Besonderheiten aussuchten. Das Gesicht des Fremden war auf der einen Seite von Narben entstellt, so dass darauf kein Bartwuchs möglich war. Auf der anderen, unverletzten Gesichtshälfte jedoch wucherte der Bart. Beim „Halbbart“ handelte es sich um einen lebenserfahrenen Mann, der sich in der Heilkunde auskannte. Das Wichtigste aber: Der Halbbart konnte Geschichten erzählen, und zwar so, dass sich die Balken bogen. Ihm ist ein Unrecht widerfahren, das er nur zögernd in Erzählungen verpackt und preisgibt. Nun sinnt er auf Rache. Weil Sebi über eine besondere Gabe des Erzählens und des Beobachtens verfügt, lässt der Halbbart in ihm den Wunsch reifen, sich zum Geschichtenerzähler ausbilden zu lassen.

Sebi, der Protagonist in Lewinskys Roman, möchte den Erzählern nacheifern, die mit ihren Geschichten auf Tournee gehen. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Sebi macht sich als Erzähler einen Namen. Eines Tages fasst Sebi den Entschluss, als Erzähler auf Tournee zu gehen, so wie das ja auch das Teufels-Anneli mache, die auf ihrer Tournee als Erzählerin Geschichten aus alter Zeit, aber auch Novitäten präsentiert. Sebi erhofft sich davon ein stattliches Einkommen, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Doch damit ist Sebis Geschichte bereits schon fast zu Ende erzählt. Der Autor kombiniert weitere Geschichten hinzu.

„Wenn man einmal ins Erzählen kommt, fällt einem immer noch mehr ein, dagegen kann man nichts machen.“

Protagonist Sebi in „Der Halbbart“

Eine Geschichte nach der anderen spult der Ich-Erzähler in Charles Lewinskys Roman „Der Halbbart“ ab, und das über stolze 680 Seiten. Was macht das mit den Leser*innen? Der eine Leser liest sich schwindlig inmitten dieses gigantischen Erzähl-Konstrukts, eine andere Leserin schafft es womöglich mit einer Fleissleistung, all die einzelnen Geschichten wie Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Und dazu offeriert uns der Autor auch noch eine opulente Personentafel: Nebst dem Sebi und dem Halbbart gibt es noch viele weitere Figuren zu entdecken: Sebis Brüder Poli (Teufelskerl, Soldat) und Geni (Ratgeber, Politiker), Onkel Alisi (ein narzisstischer und räuberischer An- und Verführer), den Priester Hubertus (der eigentlich kein Priester ist), den Laurentz (alt und wissend), den Totengräber (dem selbst schon alle Knochen weh tun) und Stoffel, den Schmied (der hat ein adrettes Töchterchen namens Kätterli), undsoweiter, undsofort.

Auch ein Schmied aus dem Mittelalter mitsamt einer adretten Tochter darf in einem Mittelalter-Schunken nicht fehlen (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

83 Kapitel, randvoll mit Mittelalterlichem, setzt uns Autor Lewinsky zur Lektüre vor. Darunter viel Tragisches, etwas Poetisches, wenig Witz und kaum Erhellendes über eine weit zurückliegende Epoche. Mit Tatsachen hat all das wenig zu tun, das muss es aber auch gar nicht. Obschon hin und wieder die geschichtlichen Fakten die Story zu einem Ratespiel werden lassen: Was ist nun historische Wahrheit? Der sogenannte Marchenstreit über die Rechtmässigkeit von Grenzziehungen zugunsten des Klosters Einsiedeln, zum Beispiel. Der sogenannte „Marchenstreit“ hat damals, im Jahr 1314, die Landbevölkerung zu einem Überfall auf das Kloster Einsiedeln bewogen. Aber sonst?

„Für wahr wird auch mal das gehalten, was nichts mit Tatsachen zu tun hat. (…) Nur allzu oft wollen die Zuhörer glauben, was ihnen erzählt wird. Zumal dann, wenn ihre Sache in ein strahlendes Licht gestellt wird.“

Der Protagonist Sebi sinngemäss in „Der Halbbart“

Wie im trumpisierten Amerika? Sebi, der das Erzählen zu seinem Beruf macht, heimst zum Schluss viel Lob ein für seine unglaubwürdigen Übertreibungen. Seine platten und hölzernen Heldengeschichten erzählt er nicht ohne Skrupel, die sich aber allesamt als unbegründet erweisen. Denn: Das Volk will sowas hören, das war damals schon so, und es ist heute auch noch so. Denkt man bei Sebis Lügen-Konstrukten an das trumpisierte Amerika, ist das Mittelalter in der Gegenwart angekommen. Oder um mit dem Teufels-Anneli zu sprechen: „Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lange erzählen, und irgendwann wird sie Wahrheit sein.“

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Roman „Halbbart“ (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Daniel Theler)

Quellen: Text, Bilder und Radiosendung von Kurt Schnidrig. Die Fotos entstanden auf dem Mittelalter-Markt in Naters.