Dürrenmatt und die Schule

Das Centre Dürrenmatt Neuchâtel feiert am 5. Januar den 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt. (Foto: Kurt Schnidrig)

Friedrich Dürrenmatt ist Schulstoff. „Der Besuch der alten Dame“ bereits auf OS-Stufe, „Die Physiker“ spätestens in den unteren Mittelschulklassen. Vor Weihnachten, Ostern oder anderen Festtagen, wenn die Schülerschaft unruhig hinter den Bänken hervorlugt und nur noch das Ende des Unterrichts herbeisehnt, lässt sich womöglich die Deutschlehrerin erweichen und zeigt den Film „Es geschah am helllichten Tag“, der auf dem Dürrenmatt-Krimi „Das Versprechen“ basiert. Damit hat es sich so ziemlich. „Die Panne“ – die gemäss Marcel Reich-Ranicki „von der Literaturkritik gänzlich unterschätzte Parabel von der Schuld des Individuums“ – hat bislang nur ausnahmsweise Eingang gefunden in den Literatur-Kanon der Schulen. Das Theaterstück „Der Meteor“, das zum Teil auch eine Selbst-Persiflage Dürrenmatts ist und mit dessen Hilfe die Lehrpersonen den Schriftsteller Friedrich Dürrematt bestens für Schüler*innen fassbar machen könnten, findet in der Regel ebenfalls keinen Eingang in die schulische Literaturvermittlung. Dasselbe gilt für fast alle anderen Werke Dürrenmatts.

Dürrenmatt zwischen Schrift und Malerei. Dürrenmatts 100. Geburtstag am kommenden 5. Januar könnte deshalb ein willkommener „Aufhänger“ sein, um das Bild, das Generationen von Schülerinnen und Schülern von Dürrenmatt haben, um einige Facetten zu bereichern. Für einige der Schulversager, Schulgeschädigten und von der Schule Frustrierten könnte Dürrenmatt auch ein stückweit als Seelenpflaster dienen. Denn obschon Dürrenmatt mit wenigen Vorzeige-Werken heute „Schulstoff“ ist, war er selber kein guter Schüler. Die Schulzeit bezeichnete er ohne Umschweife als die „übelste Zeit“ seines Lebens. Dürrenmatt hatte schlechte Noten. Die Art des Unterrichts gefiel ihm nicht. Bei den Lehrern eckte er mit seinem Verhalten an und galt ganz allgemein als Querulant der übelsten Sorte. Im Emmental zur Welt gekommen, begann er schon während seiner frühesten Zeit in Konolfingen zu malen und zu zeichnen. Sein ureigenster Wunsch wäre eine Ausbildung zum Kunstmaler gewesen, er „musste“ dann aber Philosophie, Germanistik und Naturwissenschaften an der Universität Bern studieren, weil nur sowas bei seinen Eltern „in die Tüte kam“. Dies besonders, nachdem sich der junge Friedrich entschieden geweigert hatte eine theologische Laufbahn einzuschlagen, für die ihn sein Vater, ein protestantischer Pfarrer, ja eigentlich ausersehen hatte. So spurte denn Dürrenmatt ein in die Schriftstellerlaufbahn, obschon er lieber ein Kunstmaler geworden wäre.

Dürrenmatt als „Pissoir-Poet“? Zumindest fotografierte ich diese Toilette im Centre Dürrenmatt Neuchâtel. (Foto: Kurt Schnidrig)

Der Dramatiker und Krimi-Autor ist Schulstoff. Das künstlerische Gesamtwerk Dürrenmatts ist jedoch weit umfangreicher. Es umfasst zum einen Gouache- und Ölbilder und zum anderen auch Collagen, Lithografien, Karikaturen und Wandmalereien. Er illustrierte viele seiner schriftstellerischen Werke, er fertigte unzählige Skizzen an und malte expressionistische Bühnenbilder. Als Maler verschonte er keine weissgetünchte Wand. Als er noch in Bern bei seinen Eltern in einer Mansarde wohnte, verzierte er diese mit riesigen, skurrilen und expressionistischen Wandbildern, die zu seiner Zeit von den Eltern aufwändig wieder „gesäubert“ und weiss überstrichen werden mussten. Erst Anfang der neunziger Jahre legten Dürrenmatt-Liebhaber diese Wandbilder frei und restaurierten sie.

Vorzeige-Schriftsteller Dürrenmatt ist heute zusammen mit Max Frisch das Erfolgs-Duo in der Schweizer Literaturgeschichte. Als Dramatiker wird er der studierenden Jugend vermittelt. In Wahrheit war Dürrenmatt jedoch ein Multi-Talent. Denn gerade auch als Dramatiker hatte Dürrenmatt so manchen Misserfolg zu verdauen.

„Ich habe ins Blaue geschossen und ins Schwarze getroffen.“

Friedrich Dürrenmatt in: „Der Richter und sein Henker“.

Das Bühnenwerk „Es steht geschrieben“ erlebte im April 1945 im Schauspielhaus Zürich eine wahre Abfuhr. Auch sein Drama „Der Blinde“ fand kaum Beachtung. Das Werk „Der Turmbau zu Babel“ vernichtete Dürrenmatt gleich eigenhändig. Nur aufgrund von Hörspiel-Aufträgen deutscher Rundfunkanstalten gelang es ihm während der ersten Jahre als freier Schriftsteller, seine fünfköpfige Familie finanziell über die Runden zu bringen.

Weltweiten Ruhm verdiente sich Dürrenmatt erst im Jahr 1956 mit seiner Tragikomödie „Der Besuch der alten Dame“. Danach musste er mit der „musikalischen Komödie“ Frank der Fünfte (1960) jedoch wieder bös unten durch, bevor dann mit „Die Physiker“ (1962) der zweite Welterfolg folgte. Was jedoch nur wenigen Schriftstellern gelingt: Dürrenmatt wurde bereits zu Lebzeiten mit Literaturpreisen überhäuft. Dazu verlieh ihm die Temple University in Philadelphia die Ehrendoktorwürde, und er durfte sich mit Ehrendoktortiteln schmücken von Jerusalem bis Nizza. Ob all der akademischen Auszeichnungen geht vergessen, dass Dürrenmatt 1946 sein Studium abbrach ohne seine geplante Dissertation über den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard auch nur anzufangen. Auch diese Facette gehört zum Thema „Dürrenmatt und die Schule“. Und das alles beweist vor allem eins: Schule ist nicht alles, für Dürrenmatt war die Schulzeit gar die „übelste Zeit“ seines Lebens.

„Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.“

Friedrich Dürrenmatt

Allen Schulabbrechern und Schulkritikern spricht Dürrenmatt aus dem Herzen: Genies und Multitalente brauchen die Freiheit. Denn nur in Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig