Der Flirt von Wissenschaft und Literatur

Wie lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse mit Hilfe von Erzählungen und Romanen volksnah rüberbringen? Blühende Wiesen dank dem „literarischen Kampf“ gegen Pestizide. (Symbolbild Kurt Schnidrig)

Die Corona-Pandemie hat uns unmissverständlich klar gemacht, wie wichtig es ist, wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Virologie, aus der Biologie, aus Physik und Chemie leicht verständlich und volksnah rüberzubringen. So mancher Virologe musste sich in den vergangenen Wochen eingestehen, dass die Sprache der Wissenschaft für viele der betroffenen Bürgerinnen und Bürger allzu gestelzt und allzu unverständlich ist. Also flüchten sich die Wissenschaftler ins Erzählerische, Journalisten in „Themenjournalismus“. Einige behelfen sich gar mit literarischen Formen wie der naturwissenschaftlichen Erzählung oder dem Wissenschafts-Roman. Kündet sich da ein neuer Bücher-Trend an für das Jahr 2021? Die Hinwendung der Naturwissenschaft zur Literatur ist allerdings nicht neu. Die amerikanische Autorin Rachel Louise Carson hat bereits vor sechzig Jahren gezeigt, wie das Zusammengehen von Wissenschaft und Literatur funktioniert.

Rachel Carson war eine amerikanische Zoologin, Biologin und Autorin von Buch-Bestsellern. Ihr Hauptwerk „Silent Spring“ (Der stumme Frühling) aus dem Jahr 1962 wird häufig als Ausgangspunkt der US-amerikanischen Umweltbewegung bezeichnet. Rachel Carson gilt als eine der wichtigsten Personen des 20. Jahrhunderts. Verdient hat sie sich diese Auszeichnung vor allem auch wegen ihrer ganz besonderen Art des Schreibens und des Vermittelns von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Als studierte Biologin war sie zur Überzeugung gelangt, dass die Literatur, insbesondere die Erzählung und der Roman, geeignete Formen zur Wissenschafts-Vermittlung sind. Als Biologin und Schriftstellerin schrieb sie eine spannende wissenschaftliche Roman-Trilogie: The Sea Around US (Wunder des Meeres), The Edge of the Sea (Am Saum der Gezeiten), Under the Sea-Wind (Unter dem Meerwind). Nach dieser Trilogie, die das Leben im Meer thematisierte, wandte sich sich vermehrt den Problemen des Umweltschutzes zu.

Mit einem Roman gegen Pestizid-Einsatz. Rachel Carson hat den Beweis erbracht, dass sich mit Hilfe eines Romans auch ein gravierendes Umweltschutz-Problem lösen lässt. In ihrem bekanntesten wissenschaftlichen Roman „Silent Spring“ (Der stumme Frühling) thematisierte sie die Auswirkungen eines rigorosen Pestizid-Einsatzes auf unser Ökosystem. Das Buch löste nicht nur in den USA heftige politische Debatten aus. Mit ihrer ebenso klaren wie poetischen Sprache mobilisierte sie die Öffentlichkeit gegen den Einsatz von Pestiziden, insbesondere von DDT. Das Pestizid Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) galt lange Zeit als Standardinsektizid, es war preisgünstig und wirksam gegenüber einer Vielzahl von Insekten, während es gegenüber Säugetieren scheinbar wirkungslos war.

„Ich bin auf Zusammenhänge aufmerksam geworden, die mich so sehr verstören, dass ich mich entschieden habe, alle anderen Verpflichtungen als Wissenschaftlerin zu verschieben und mich mit Literatur (mit einem Roman) gegen den Einsatz von DDT zu engagieren.“

Rachel Carson

Im Kampf gegen das Pestizid DDT war Rachel Carson zusätzlich zu ihrer Literaturrecherche auch noch Hunderten von Einzelfällen nachgegangen, bei denen es nach dem Einsatz von Pestiziden zu Erkrankungen bei Menschen gekommen war. Auf Vorschlag ihrer Literaturagentin bündelte sie die vielen Einzelschicksale zu einer ergreifenden Erzählung, die auch die Politik bewegte. Die wissenschaftliche Faktenlage wechselt im Buch ab mit Passagen, die Erlebnisse und Erfahrungen einzelner Betroffener wiedergeben. Dies machte das Buch auch für Laien nachvollzieh- und lesbar. Der Wissenschafts-Roman war geboren. Der Roman erzielte einen grandiosen Erfolg im Kampf gegen den Einsatz von Pestiziden: Das Buch führte letztlich zum DDT-Verbot.

Wissenschaftler als Protagonisten in Romanen. Die Biologin Rachel Carson hat vorgemacht, was auch heutzutage wieder nottut: Die Naturwissenschaft verbündet sich mit der Literatur, sie macht sich literarische Formen zunutze, um verstanden zu werden und um breite Volksschichten zu erreichen. Ein Roman oder eine Erzählung kann grandios einen Zugang schaffen zu wissenschaftlichen Phänomenen. Aktuell zeigt sich der Flirt der Wissenschaft mit der Literatur auch im Wissenschafts-Roman „Die Zuckerfabrik“ der Schweizer Autorin Dorothea Elmiger. Auch die zurzeit sehr gefragte Bücher-Reihe „Der blinde Fleck“ liefert Beispiele, wie sich Wissenschaft literarisch vermitteln lässt. Fakten und Ergebnisse aus der Wissenschaft werden spannend, informativ und leicht nachvollziehbar in Geschichten verpackt.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum neuen Literatur-Trend „Wissenschaft literarisch vermitteln“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Karin Imhof)

Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig