Silent Books

Dekorative Weihnachtsfiguren – hätten sie auch Geschichten zu erzählen? (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Weihnachten ist ein Fest, das auf die Kraft von Bildern und Figuren setzt. Engel ohne Zahl bevölkern die Stuben. Was aber trompeten sie in die Welt hinaus? Dekorative Nussknacker stehen auf festlich geschmückten Tischen. Nur zu gern würde ich meiner kleinen Enkelin bei ihrem Anblick das Märchen „Nussknacker und Mausekönig“ erzählen. Aber wer kennt denn noch das alte Weihnachtsmärchen von E.T.A. Hoffmann aus dem Jahr 1816? Viele Geschichten und Erzählungen gehen vergessen. Was bleibt, das sind Figuren und Bilder: Zur Dekoration verkommene Engel ohne Weihnachtsbotschaft. Nussknacker ohne sinnstiftendes Märchen. Nostalgische Liebhaber einer traditionellen Weihnacht mögen darob enttäuscht sein. Es sei denn, findige und kreative Geschichten-Erfinder*innen beherrschen das „Bildlesen“ und erzählen die Geschichten ganz neu und aktuell. Was trompeten heutige Weihnachtsengel in die Welt hinaus? Woran habe heutige Nussknacker zu „knacken“? Der Trend des „Bildlesens“ lässt sich zurzeit in den sogenannten „Silent Books“ feststellen. Es sind dies Bilderbücher ohne Text und ganz ohne Worte. Sie sind eine Herausforderung für kreative Geschichten-Erfinder.

Entstanden im Flüchtlingslager auf der Insel Lampedusa. Die italienische Sektion von IBBY (International Board on Books for Young People) soll den Begriff „Silent Books“ in Umlauf gebracht haben. Auf Lampedusa ist zurzeit ein literaturwissenschaftlich hoch interessantes Projekt im Gange. Das Projekt trägt den Titel „Libri senza parole“. Ziel ist es, Bilderbücher ohne Text aus der ganzen Welt zu sammeln und den Menschen auf der Flucht zur Verfügung zu stellen. Die Menschen auf Lampedusa stammen aus den unterschiedlichsten Gegenden der Welt. Inmitten dieses Sprachengewirrs ist die Sprache der Bilder eine Möglichkeit des Kommunizierens, die allseits verstanden wird.

„Doch „silent“, also still, sollte es wirklich nicht bleiben, wenn Menschen sich ko-konstruierend über ein Bilderbuch beugen.“

Barbara Jakob, literale Förderung, SIKJM

Im Gegensatz zu Bilderbüchern mit Text seien die Lesenden oder Betrachtenden bei textlosen Bilderbüchern stärker gefordert, meint Barbara Jakob, verantwortlich für die literale Förderung beim Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM. Selbstredend müssen sich die Lesenden bei textlosen Bilderbüchern stärker einbringen. Da ist kein klarer Verlauf der Geschichte vorgegeben. Die Lesenden müssen selber ihre eigenen Schlüsse aus dem Bildangebot ziehen. Von ganz einfachem Benennen bis zu weiterreichenden Gesprächen sei in textlosen Bilderbüchern nicht nur für ganz junge Kinder viel Spannendes angelegt, ist Barbara Jakob überzeugt.

Wie hilfreich sind „Silent Books“? Es leuchtet ein, dass die textlosen Bilderbücher gerade für Kinder im Leselernprozess, mit Leseschwierigkeiten oder im Zweitspracherwerb hilfreich sein können. Das analytische Dekodieren von Schriftzeichen fällt weg, den Kindern eröffnet sich ein erfrischendes und kreatives Eintauchen in die Bilderwelt. Mit etwas Übung schaffen sie in einem zweiten Schritt eine eigene Versprachlichung der Bilder und bauen sich eine persönliche Erzählkompetenz auf. Mit anderen Worten: Kinder werden mit Hilfe von Silent Books zu Geschichten-Erfindern und – Erzählern.

Literarische Kompetenzen lassen sich bei kindlichen und jugendlichen Leser*innen mit Hilfe von Silent Books aufbauen. Beim Bilderlesen lernen sie Sinn- und Bedeutungskonstruktion. Auch dem Erkennen und der Anwendung von narrativen Strukturen kommt eine zentrale Bedeutung zu. Zweifellos haben „Silent Books“ künftig ein Potenzial auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt. Besonders kunstaffine Verlage reissen sich derzeit um herausragende Illustrator*innen für textlose Bilderbücher.

Text und Foto: Kurt Schnidrig