„Heimat ist alles, woran mein Herz hängt“

(M)ein Vorschlag für den Satz des vergangenen Jahres 2020: Ein Ausspruch der Ägypterin Sofia Ibrahim. (Bild: Mediathek Wallis)

Beim Lesen eines Buches fühlt man sich zuweilen motiviert, das Gelesene mit eigenen Erfahrungen und Begegnungen zu vertiefen. Ein derartiges Leseerlebnis hatte ich über die Weihnachtstage. Ich habe mir das Buch des Historikers Andreas Kossert besorgt, es trägt den Titel „Flucht – eine Menschheitsgeschichte“. Darin schreibt der Historiker Kossert exemplarisch und anhand von Flüchtlings-Schicksalen über die Themen „Flucht“, „Vertreibung“, „Weggehen“, „Ankommen“, „Weiterleben“ und „Erinnern“. Das Buch lenkt die Aufmerksamkeit des Lesenden auf die Geflüchteten unter uns, die nach der Vertreibung aus ihrer alten Heimat bei uns auf ein Ankommen und Weiterleben hoffen. Beim Lesen der „Menschheitsgeschichte der Geflüchteten“ war ich in Gedanken oft bei der Ägypterin Sofia Ibrahim, mit der ich als Moderator im vergangenen Herbst in der Mediathek Wallis in Brig ein öffentliches Gespräch hatte führen dürfen. „Heimat ist alles, woran mein Herz hängt“, sagte Sofia Ibrahim zu mir. Dieser Ausspruch, hat mich zutiefst bewegt und berührt. Für mich ist dies der Satz des vergangenen Jahres 2020.

Eine „Vertreibung aus dem Paradies“. Geboren ist Sofia Ibrahim in Alexandria, der zweitgrössten Stadt Ägyptens. Die Kindheit, die sie dort verbringen durfte, wird für Sofia immer in paradiesischer und glücklicher Erinnerung bleiben. Trotz all der massiven Einschränkungen und Reglementierungen, welche die arabische Welt ihren Bürgerinnen und Bürgern auferlegt, waren ihre ersten Lebensjahre in Alexandria „traumhaft schön“. Der „Auszug aus Ägypten“ erfolgte dann allerdings gezwungenermassen, das Regime in Ägypten duldete die freiheitlich-künstlerischen Bestrebungen ihres Mannes nicht. Der Wegzug aus der Stadt ihrer Kindheit kam einer „Vertreibung aus dem Paradies“ gleich.

Das Ankommen im Oberwallis war oftmals beschwerlich. Was hatte Sofia nicht alles versucht, um die Existenz ihrer Familie zu sichern, aber auch, um die so wichtigen Kontakte bei uns zu knüpfen! Die studierte Mathematikerin mit Universitäts-Abschluss war sich nicht zu schade im Gastgewerbe zu jobben, in sozialen Einrichtungen auszuhelfen oder in Schulen kurzzeitige Stellvertretungen zu übernehmen. Wahrlich, die „soziale Integration“ gibt es bei uns nicht umsonst! Obschon äusserst kommunikativ und aufgeschlossen, hatte Sofia Ibrahim vor allem zu Beginn unter Anfeindungen zu leiden und auch unter unverhohlener Ablehnung.

Zumindest eine „geistige Heimat“ erhoffte sich Sofia Ibrahim über das Erlernen der deutschen Sprache zu erschaffen. Der „sprachliche Abstand“ zwischen der Mutter- und Vatersprache Arabisch und der neuen Zielsprache Deutsch war immens. Bei uns im Oberwallis kommt ja noch eine zusätzliche „Fremdsprache“ hinzu, der Walliserdialekt. Sofia Ibrahim erlernte unsere Mundart mit Spass. Gar „lustig“ findet sie die althochdeutschen Endsilbenvokale o und u bei Nomen und Verben.

Süsse Erinnerungen an ihre ägyptische Heimat trägt sie jedoch weiterhin mit sich herum. Leidenschaftlich, wehmütig und mit viel Herz vermisst Sofia Ibrahim ihre Verwandten und Bekannten, die in Alexandria zurückbleiben mussten, insbesondere ihren Vater. Es sind oftmals auch die kleinen Dinge des Lebens, welche Sofia bei uns vermisst. Etwa die wunderbar mundende Mango-Frucht aus Ägypten, die es so bei uns schlichtweg nicht zu kaufen gebe, wie sie glaubhaft versichert. Ägypten ist ein Land mit einer antiken Hochkultur. Die Geschichten von Pharaonen und Pyramiden, die ägyptischen Märchen, Legenden und Sagen, haben sich wundervoll und tief in die Erinnerung eingegraben.

Weiter träumen und hoffen muss Sofia Ibrahim, was ihre berufliche Zukunft anbelangt. Liebend gerne würde sie hier bei uns ihren heiss geliebten Beruf als Mathematikerin ausüben. Doch leider steht ihr noch die fehlende Anerkennung ihrer Diplome, die sie in Ägypten erworben hat, im Weg. Trotzdem schlage ihr Herz auch immer noch für die alte Heimat, gesteht Sofia Ibrahim. Immer noch verfolge sie mit grossem Interesse, was sich so alles in Aexandria tut.

Aus der Heimat sind „Heimaten“ geworden. Heimat ist heute oft einzig noch im Plural zu haben, als „Wohlfühlorte“. Die frühere Heimat im patriotischen Sinn ist zu einer Patchwork-Heimat mutiert. Eine Patchwork-Heimat lässt sich mit einem Cocktail vergleichen, den man sich an der „Heimat-Bar“ mixt. Was aber müsste in diesen „Heimat-Cocktail“ hinein?

„Heimat ist alles, woran mein Herz hängt.“

Sofia Ibrahim

Der Satz des Jahres 2020. Rund 60 Millionen Flüchtlinge sind in dieser Altjahres-Woche unterwegs. Sofia Ibrahim ist bereits „angekommen“. Was aber ist mit den vielen Menschen, die in diesen Tagen, nach langer Irrfahrt, auf der Suche nach einem neuen Zuhause sind? Sie leben mit Erinnerungen im Herzen. Viele von ihnen werden das Dorf oder die Stadt ihrer Kindheit nie mehr zu Gesicht bekommen. In seinem Buch „Flucht – eine Menschheitsgeschichte“ erzählt der Historiker Andreas Kossert von Dutzenden ähnlicher Flüchtlings-Schicksale. Nicht alle dieser Geflüchteten sind „angekommen“. Autor Andreas Kossert enthüllt in seinem Buch eine Tragödie, die bis anhin kaum jemals thematisiert worden ist: Viele Menschen auf der Flucht sterben – an Heimweh. Heimweh als Todesursache. Eine Diagnose, die für viele Menschen auf der Flucht am Ende ihres Lebens steht.

Was aber verbindet die Menschen auf der Flucht? Sie kommen aus ganz Europa, aus dem Nahen Osten, aus Pakistan, aus Vietnam, aus Kambodscha, aus Myanmar, aus Guatemala… alle sind sie auf der Suche nach einer neuen Heimat, sie träumen von ihr, verklärt und in rosa Farbe. Wo aber ist für all diese Menschen die „Endstation Sehnsucht“? Sofia Ibrahim, geflüchtet aus Alexandria und angekommen bei uns im Oberwallis, weiss wo: „Heimat ist alles, woran mein Herz hängt“. Für mich ist dies der Satz des Jahres 2020.

Im Rahmen der Sendung „Literaturwelle“ habe ich während der Festtage das Buch „Flucht – eine Menschheitsgeschichte“ auf dem Regionalsender rro besprochen.

Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig