Grosse Gefühle zum Jahresbeginn

Glück, Freude, Empathie, Zuneigung, Geborgenheit, Neugier… die Palette menschlicher Gefühle ist breit. Bild: Aus dem Musiktheater „Emotionen“ (Buch und Regie: Kurt Schnidrig)

„Viel Glück!“ In diesen Tagen wünscht man sich allseits viel Glück zum Neuen Jahr. Das Glück lässt sich allerdings nicht einfach so einfangen. Das grösste Hindernis zum Glück sei die Tatsache, dass wir Erfolg und Misserfolg in unserem Leben allzu stark gewichten würden, schreibt Rolf Dobelli in seinem Bestseller-Klassiker. Ob man nun Erfolg hat oder nicht, das hange vielfach auch von den Genen und von den Erbanlagen ab, schreibt er. Und auch Geld sei noch lange nicht der Königsweg zum Glück. 52 überraschende Wege zum Glück zeigt uns Rolf Dobelli auf. Im Buch stehen auch Ratschläge wie dieser: „Sagen Sie nicht immer und überall Ihre Meinung!“ Heute würden viele meinen, sie müssten zu allem ihren Kommentar abgeben. Es sei aber schlicht unmöglich, zu den vielen komplexen Themen eine fundierte Meinung abzugeben, argumentiert Dobelli. Besser wäre, die eigene Meinung nur bei Themen, die man wirklich gut kenne, in die Welt hinaus zu posaunen. Nur so sei es möglich, kompetent rüber zu kommen und sich Respekt zu verschaffen. (Rolf Dobelli: Die Kunst des guten Lebens. 52 überraschende Wege zum Glück. Piper Verlag, 304 Seiten; eine Kurz-Rezension im Podcast am Schluss dieses Beitrags.)

Welche Rolle spielen die Gefühle in unserem Leben? Welche Rolle haben Wut, Empathie und Angst in der deutschen Geschichte seit 1900 gespielt? Die Historikerin Ute Frevert hat ein neues Buch über die Macht von Gefühlen veröffentlicht. Müssen wir angesichts der Corona-Pandemie besondere Gefühle wie „Solidarität“ neu lernen? Was unsere Gefühlswelt anbelangt, hat die Pandemie ganz viel verdorben, ist die Historikerin überzeugt. Zu Beginn der Krise hätten wir uns noch gefühlvoll gezeigt, insbesondere in der Fürsorge für Ältere oder in der Unterstützung lokaler Geschäfte und Restaurants. Viele Menschen hätten – zu Beginn der Krise – ihren Egoismus ein Stück weit abgelegt. Von diesem gesellschaftlichen Handeln hätten sich jedoch mittlerweile viele verabschiedet. Je länger die Krise andauert, je mehr entstehe das Bedürfnis, die eigene Freiheit auf Kosten derjenigen auszuleben, die am meisten darunter leiden: Alte und Vorbelastete. (Ute Frevert: „Mächtige Gefühle – Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung – Deutsche Geschichte seit 1900. Verlag S. Fischer, 469 Seiten)

Corona schlägt auf die Psyche. Die Praxen, welche psychiatrische und psychologische Behandlung anbieten, sind überlastet. Die Pandemie verschärft bereits bestehende Probleme. Zu behandeln sind gegenwärtig negative Gefühle wie Angstzustände, Depressionen und Existenzsorgen. Was leider nur allzu oft in Vergessenheit gerät: Die Corona-Krise hat nicht nur verheerende Folgen für das Gesundheitswesen und für die Wirtschaft, sondern auch für die Psyche. Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich der psychischen Gesundheit, denn viele Menschen leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Pandemie.

Mächtige Gefühle für jedes Zeitalter. Mindestens 20 verschiedene Gefühle listet Frevert in ihrem Buch auf, die während der letzten hundert Jahre unser Leben bestimmt haben. In der aktuellen Corona-Krise sind es vor allem die Wutbürger, die gegen politische Massnahmen und Entscheide aufbegehren. Problematisch werde es dann, wenn Wut politisch instrumentalisiert oder verschwörungstheoretisch unterfüttert werde, schreibt die Historikerin Frevert. Doch könne Wut manchmal auch Berge versetzen. Ute Frevert erinnert dabei an die Antisklaverei-Bewegung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In der jüngeren Geschichte haben auch Gefühle wie „Entsetzen“ und „Mitgefühl“ oftmals als Türöffner funktioniert. Man erinnere sich an das Jahr 2015, an Angela Merkels Entscheidung, die Grenzen zu öffnen und Geflüchtete ins Land zu lassen.

Die „Gefühligkeit“ hat zugenommen, ist die Historikerin Frevert überzeugt. Für unsere Grossväter und Grossmütter waren Gefühle oftmals noch verpönt. Es ziemte sich nicht, seine Gefühle offen zu zeigen. Insbesondere Männer, die auch mal weinten oder gar Tränen vergossen, galten als „Waschlappen“ und als „Weicheier“. Ein Indianer kennt keinen Schmerz! Mit derartigen Sprüchen haben frühere Gesellschaften ein Männerbild geprägt, das bis heute viele daran hindert, sich zu öffnen und den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Im neuen Jahrhundert aber ist das Bekenntnis zu Gefühlen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. „Emotionale Intelligenz“ ist ein Verkaufsschlager. Gefühle, die heute eine zentrale Rolle spielen, sind vor allem „Geborgenheit“ oder auch „Hass“. Andererseits wurden Gefühle, die früher geschichtsmächtig waren – etwa „Ehre“ und „Demut“ – in den Hintergrund gedrängt.

Gefährliche Politik der „enthemmten Gefühle“. Was die verordnete und fatale „Daueremotionalisierung“ des Nationalsozialismus angerichtet hat, ist in Geschichtsbüchern nachzulesen. Propagandaminister Joseph Goebbels sprach im November 1938 vom „Volkszorn“, der raste und sich legitimerweise gegen jene wandte, die dem Volk Schaden zufügen wollten. Das war der Auftakt zur Reichspogromnacht. Inzwischen sind erneut wieder Trends hin zu einer Politik der enthemmten Gefühle festzustellen. Knüpfen Pedigisten und rechtsextreme Politiker auch gefühlspolitisch an den Nationalsozialismus an? Dies fragt die Historikerin Ute Frevert in ihrem Buch.

Vertrauen – ein Modewort? Das Gefühlswort „Vertrauen“ werde zurzeit über alles Mögliche gestülpt, schreibt Frevert. Für unsere Demokratie heisse das zentrale Gefühl „Vertrauen“ – ein Vertrauen zwischen Staat und Bürgern, aber auch ein Vertrauen der Bürger*innen untereinander, das ohne Bespitzelung und Denunziantentum auskommt.

Auch negative Gefühle können Positives auslösen. Das literarische Schaffen liefert unzählige Beispiele dafür. Ohne das Gefühls-Chaos, das der Zweite Weltkrieg bei Heinrich Böll ausgelöst hat, ist sein literarisches Schaffen nicht zu verstehen. Der Krieg hat Böll geprägt, der Krieg hat ihn zum Romancier und zum späteren Literatur-Nobelpreisträger werden lassen. Die Kriegsjahre haben ihn zu einem nachdenklichen und politisch engagierten Schriftsteller werden lassen. „Man möchte manchmal weinen wie ein Kind“ – dies der Titel, den Heinrich Bölls Kriegstagebücher tragen. In den Kriegstagebüchern konnten sich die seelische Not und die Abscheu, die Böll aus dem Krieg mit nach Hause gebracht hatte, entladen. In der Böll-Biographie von Jochen Schubert wird die emotionale Gestimmtheit Bölls thematisiert: Bereits in seiner Kölner Kindheit und Jugend hat er jeglichen Respekt vor der bürgerlichen Ordnung verloren, die Schuld dafür trägt die Weltwirtschafts-Krise. Die negativen Gefühle lösten in Böll ein Handlungsprogramm aus, er widersetzte sich jeglicher Ideologien und war bereit, für seine Überzeugungen alles zu riskieren. (Aus: Kurt Schnidrig: Ein Leuchtturm in der Finsternis. Spurensuche, Begegnungen, Betrachtungen, S. 283f.)

Die Zukunft der Gefühle ist technologisch. Die neuen Gefühlsmedien verändern unser Fühlen. Der Gefühlspolitik haben sich heute auch die sozialen Netzwerke verschrieben. Im sogenannten „affective computing“ sollen menschliche Affekte und Emotionen registriert und gesteuert werden. Auch im Internet lassen sich mit Hilfe von Gefühlen kommunikative Zielsetzungen erreichen. Insider sprechen bereits von „shaming“ im Netz und von digitalen „hater“-Kulturen.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Buch-Klassiker „Die Kunst des guten Lebens. 52 überraschende Wege zum Glück“. (rro / Kurt Schnidrig / Joel Bieler)

Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig