Von Tigern und Papiertigern

Wer aufgrund des Bürokratismus nicht mehr zu Ergebnissen gelangt, der produziert „Papiertiger“ (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Die beiden deutschen Star-Juristen und Bestsellerautoren Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge gehen in ihrem Buch der Frage nach, wie sich die derzeitigen Beschränkungen und die verordneten „Massnahmen“ gegen die Corona-Pandemie auf unsere Zukunft auswirken könnten. Seit Mitte März des vergangenen Jahres herrscht weltweit ein Ausnahmezustand. Die Pandemie bestimmt unser Leben. „Shutdown“ und „Lockdown“ – was macht das mit uns? Wie wirken sich diese massiven Eingriffe auf unser Privatleben aus? Korrumpieren derart massive Eingriffe auch unsere Grundrechte? Die staatlich verordneten Einschränkungen unserer Freiheit müssen angesichts der hohen „Fallzahlen“ wohl einfach stillschweigend hingenommen werden. Was aber, wenn der Leidensdruck ob all der Existenzängste und Kontaktverbote allzu gross wird? (Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge: Trotzdem. Luchterhand Literaturverlag 2020, 78 Seiten.)

„Ich glaube, das Virus hat uns an eine Zeitwende gebracht. Beides ist jetzt möglich, das Strahlende und das Schreckliche.“

Ferdinand von Schirach in „Trotzdem“, Seite 58.

Aufstand unter dem Hashtag #wirmachenauf. Szenenwechsel. Die Schweizer Beizer haben die Nase voll und schliessen sich der Aktion #wirmachenauf an. Das bedeutet: Sie werden einfach den Laden öffnen. Trotz drohender Bussen. Für viele Restaurant-Betreiber ist die Zeit des Lockdowns und die damit verbundenen Umsatzeinbussen eine Frage des Überlebens. Ursprünglich war ja geplant, dass der Bund am 22. Januar die Beizen wieder aufmachen lässt. Aber der Lockdown wurde nun bis Ende Februar verlängert. Dagegen wollen sich viele Beizer, zusammen mit Fitnesscenter- und Bar-Betreibern, wehren (Blick online, 08.01.2021). Vorausgegangen war ein bürokratischer Hickhack. Meinungen, Anordnungen und Verbote, die sich von Woche zu Woche ändern. „Wenn zwei Virologen zusammenkommen, resultieren drei Meinungen“, ist auf der Strasse zu vernehmen. Den Restaurant-Betreibern hat man für teures Geld Schutzmassnahmen verordnet, jetzt schliesst man ihnen die Tür zu. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“, dieses Zitat wird oft dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer zugeschrieben. In Wahrheit erscheint es wohl bereits Ende des 19. Jahrhunderts in den humoristischen Schriften des preussischen Kulturpolitikers Friedrich Althoff (+1908). Was derartigen Äusserungen gemeinsam ist: Es handelt sich dabei um sogenannte „Papiertiger“.

Von Tigern und Papiertigern. Unter einem „Papiertiger“ versteht man Menschen, Organisationen oder Schriftstücke, die in Wahrheit keine Bedeutung oder Macht haben, bzw. die sich sich selbst handlungsunfähig machen, was oftmals erst nach einer längeren Zeit der Beobachtung erkannt werden kann. Am oben aufgeführten Beispiel festgemacht: Es wäre wohl besser, die Leute treffen sich kontrolliert in den Gastrobetrieben anstatt privat zu Hause, wo es keine oder mangelnde Schutzmassnahmen gibt. Sind „Papiertiger“ jedoch einmal losgelassen, sind sie kaum mehr zu bremsen. Ähnliche „Papiertiger“ drohen zurzeit den Kulturbetrieb zu sabotieren. Alles, was nur im entferntesten nach „Kultur“ tönt, ist strikte verboten. Andererseits fährt die ganze Nation ungeniert Ski…

„Es gibt nichts auf der Welt, das nicht eine Doppelnatur hätte. Waren das nicht lebende Tiger, eisenharte Tiger, echte Tiger? Letzten Endes haben sie sich in Papiertiger, in tote Tiger, in butterweiche Tiger verwandelt. Das sind historische Tatsachen.“

Mao Zedong im Buch „Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung“ aus dem Jahr 1965

Das Buch „Trotzdem“ von Bestseller-Autor Ferdinand von Schirach kann zwar auch nicht mit pfannenfertigen Ratschlägen aufwarten, wie wir als Gesellschaft aus der gegenwärtigen Krise herausfinden können. Wissenschaftler und Forscher warten fast täglich mit neuen Erkenntnissen und „Studien“ auf, was gestern gegolten hat, gilt heute schon wieder als überholt. Einen roten Faden in der Bekämpfung der weltweiten Pandemie kann auch der Jurist und Autor Schirach nicht erkennen. Den Blickpunkt lenkt er deshalb auf die Zukunft. Wie wirken sich die vielen verordneten „Papiertiger“ und die Beschränkungen unserer Freiheit auf die Zukunft aus?

„Sicherheit ist uns näher als Freiheit. Das erklärt die hohe Zustimmung zu immer härteren Massnahmen. Mich beunruhigt diese Tendenz.“

Ferdinand von Schirach in „Trotzdem“, Seite 72

Freiheit und Demokratie – Chance oder Bedrohung? Das Virus wird unsere Gesellschaft verändern. Im Buch „Trotzdem“ führt Ferdinand von Schirach zwei mögliche Szenarien ins Feld. Entweder wir lernen aus der Krise, dann wird die Zukunft besser und strahlender sein. Aber auch das Gegenteil kann eintreten. Die Pandemie kann so wichtige Grundwerte wie unsere Freiheit auch in Zukunft stark einschränken. Viele von uns priorisieren zurzeit Sicherheit vor Freiheit. Das erklärt die hohe Zustimmung zu immer härteren Massnahmen. Die Folgen könnten gravierend sein, schreibt Schirach. Autoritäre Strukturen könnten sich verfestigen, die Menschen könnten sich daran gewöhnen, sie lassen sich auch künftig widerspruchslos vorschreiben und diktieren, wie sie die Freizeit verbringen dürfen oder wie sie mit den Mitmenschen zusammenleben dürfen. Wenn dies alles jedoch zur Gewohnheit werden sollte, dann laufen wir Gefahr, unsere Demokratie zu verlieren, resümiert Ferdinand von Schirach.

„Wir können heute neu über unsere Gesellschaft entscheiden – nicht wie sie ist, sondern so, wie wir sie uns wünschen.“

Ferdinand von Schirach in „Trotzdem“, Seite 74

Einen Funken Hoffnung versprühen schlussendlich aber auch die Juristen Schirach und Kluge im Buch „Trotzdem“: Die Möglichkeit besteht, dass wir alle aufgrund der aktuellen Krise „wachsen“ werden. Könnte die Pandemie zum Beispiel die Solidarität unter den europäischen Ländern dermassen stärken, dass endlich der Weg frei würde für eine europäische Verfassung? Jede und jeder von uns kann dazu beitragen, dass wir aufgrund dieser Krise wachsen und uns weiterentwickeln können. Ein Wandel unserer Gesellschaft zum Besseren bietet sich an.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Buch „Trotzdem“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Yannick Zenhäusern)

Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig