Braucht es einen Literatur-Kanon für angehende Politiker*innen?

In einer fast 1500-seitigen Nationalfonds-Studie hat ein Forscher-Team der Uni Genf bereits Mitte der 1990er-Jahre die wirksamen Beziehungen zwischen Deutsch und Welsch im täglichen Leben aufgezeigt – daran hat sich bis heute nichts geändert.

In diesen Tagen beantworten Kandidat*innen für den Grossrat und für den Staatsrat in unserer Tageszeitung stereotype Fragen wie: „Wie würden Sie die Beziehung zwischen Ober- und Unterwallis beschreiben?“ Oder auch: „Braucht das Oberwallis einen Minderheitenschutz im Parlament?“ Die allermeisten Antworten der Kandidat*innen verraten vor allem nur eins: Die Befragten haben mit Sicherheit nie eine handfeste Studie zu diesem Thema gelesen! Persönlich habe ich im Rahmen einer Nationalfonds-Studie die Sichtweise und die Perspektive des Oberwallis untersucht. Es handelte sich damals um ein Nationales Forschungsprogramm, das die „Alltagsbeziehungen zwischen Romands und Deutschschweizern am Beispiel der zweisprachigen Kantone Freiburg und Wallis“ untersuchte. Das Ergebnis waren zwei Bücher mit allen Forschungs-Ergebnissen. Auf über 1500 Seiten wurde dargelegt, was die Alltagsbeziehungen zwischen Deutsch und Welsch ausmacht, und was nötig wäre, um das Verhältnis der beiden Kantonsteile zu verbessern. Rund eine halbe Million Franken hat die Studie gekostet. Liest man in der Zeitung die Antworten der Kandidat*innen für den Staats- und Grossrat zu diesen Fragen, kommt man zum Schluss, dass das vertiefte Wissen darüber, wie und warum dieses oder jenes zwischen Ober- und Unterwallis funktioniert oder eben nicht funktioniert, zwischen Buchdeckeln zahlreicher Studien steckengeblieben ist.

Eine grossangelegte Nationalfonds-Studie machte Mitte der 1990er-Jahre die wirksamen Beziehungen zwischen Ober- und Unterwallis aus. Im Bild (von rechts): Professor Uli Windisch (Leiter, Uni Genf) Dr. Kurt Schnidrig (Forschungen im Oberwallis) und Didier Froidevaux (Assistent, Uni Genf).

Gross- und Staatsratswahlen 2021. Die allermeisten Antworten der Kandidat*innen zu einem der wichtigsten Themen unseres Kantons, zu den Beziehungen zwischen Ober- und Unterwallis, könnten auch aus dem Wahlkampf von Mitte der 1990er-Jahren herstammen.

„Die Einigkeit unseres Kantons existiert wohl nur beim Cupfinal des FC Sitten“; „Das Oberwallis gerät vermehrt unter politischen Druck des Unterwallis“; „Die kulturelle Vielfalt könnte ein Anziehungspunkt sein“; „Jeder Kantonsteil hat eigene Interessen und sollte darum im Parlament angemessen vertreten sein“; „Die Sprache stellt das grösste Hindernis dar“ usw.

Gross- und Staatsratswahlen 2021. Antworten von Kandidatinnen und Kandidaten im „Walliser Bote“ der vergangenen Tage.

Die Antworten der Kandidatinnen und Kandidaten des Jahres 2021 für den Grossen Rat stimmen einigermassen frustrierend. Genau dieselben Antworten hatte ich nämlich vor rund dreissig Jahren (!) erhalten, als ich im Forscher-Team der Uni Genf genau diesen und ähnlichen Fragestellungen auf den Grund ging. Drei Jahre meines Lebens habe ich zusammen mit sieben weiteren Forschenden damit zugebracht, die Alltagsbeziehungen zwischen Deutsch und Welsch im Wallis zu erforschen und in zwei voluminösen Bänden darzulegen. Bestimmt ist unsere Arbeit nicht die einzige zu diesem Thema. Die Frage sei erlaubt: Wozu gibt man eine halbe Million Franken aus um drei Jahre zu forschen, wenn auch noch dreissig Jahre später die Studie genauso aktuell ist wie damals, weil sich in der Sache und an den Fragestellungen nichts, gar rein nichts, verändert hat? (Uni Genf, Hrsg.: Alltagsbeziehungen zwischen Romands und Deutschschweizern. Am Beispiel der zweisprachigen Kantone Freiburg und Wallis. Band 1 (716 Seiten). Band 2 (616 Seiten). Verlag Helbing und Lichtenhahn. Darin: Kurt Schnidrig: „Die Vorstellungen der Oberwalliser über die Beziehungen zwischen den Sprachgemeinschaften“ Seiten 188-274).

Ein Literatur-Kanon für angehende Politiker*innen? Bereits vor dreissig Jahren hatte unsere Nationalfonds-Studie dieselben Fragestellungen untersucht und beantwortet, die für heutige Kandidatinnen und Kandidaten für den Staats- und Grossrat immer noch einen blinden Fleck und eine ungelöste Problematik darstellen. Wäre es angezeigt, für angehende Politiker*innen so eine Art „Pflichtlektüre“ einzuführen? Ein Literatur-Kanon, ein paar einschlägige Bücher und Studien, die man gelesen haben müsste, wenn man sich als Vertreterin oder als Vertreter des Volkes präsentieren will? Eine Studie zu den Alltagsbeziehungen zwischen Deutsch und Welsch im Wallis müsste ein wichtiger Bestandteil dieses „Literatur-Kanons für angehende Politiker*innen“ sein. Es existieren mehrere Studien zu diesem Thema. Unsere Nationalfonds-Studie aus den 1990er-Jahren ist nur ein Beispiel. Sie liesse sich jedoch mit kleinstem Aufwand aufdatieren und auf den neusten Stand bringen. Deshalb nachfolgend kurz zumindest der „Klappentext“ zu dieser Studie.

Nationales Forschungsprogramm zu „Alltagsbeziehungen zwischen Romands und Deutschschweizern, am Beispiel der zweisprachigen Kantone Freiburg und Wallis“: Unter der Leitung von Professor Uli Windisch hatte ein Forschungsteam, bestehend aus Soziologen, Politologen, Linguisten, Psychologen und Soziolinguisten, während fünf Jahren verschiedenste Aspekte des Alltags in den Kantonen Freiburg und Wallis erforscht, wobei das Hauptinteresse den direkten Kontakten zwischen Romands und Deutschschweizern galt. Die zahlreichen Feldstudien, die dabei entstanden, hatten zum Ziel, das gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Leben zu untersuchen.

Alltagsbeziehungen zwischen Deutsch und Welsch. Im Rahmen dieser Nationalfonds-Studie wurde auch die Alltagspresse als feines „Messgerät“ kollektiver Anliegen untersucht. In mehreren hundert ausführlichen Interviews schlägt sich nieder, auf welche unterschiedliche Weise Freiburger und Walliser die alltäglichen Sprachkontakte erleben. Dabei werden nicht nur die subjektiven und stereotypen Vorstellungen, sondern auch die tatsächlichen Verhaltensweisen im Alltag der beiden Sprachgruppen erkennbar. Die vorliegende „Enzyklopädie“ der gesellschaftlichen Spielregeln verdeutlicht den ausserordentlichen Reichtum des sozialen, kulturellen, sprachlichen und politischen „Labors“, wie es das Wallis und die Schweiz verkörpert.

Ein Modell der Koexistenz im Wallis. In der umfassenden Nationalfonds-Studie wurde auch ein Modell der Koexistenz der beiden Sprachgruppen angegangen mit zuweilen provozierenden Lösungsvorschlägen. Daraus hat sich zum Beispiel die Frage ergeben, ob nicht die Kantone Freiburg und Wallis in Zukunft ein Modell für die mehrsprachige und multikulturelle Schweiz sein könnten.

Mit ideeller Unterstützung der Walliser Regierung. Als Forschender habe ich insbesondere die Bedürfnisse und Anliegen der Oberwalliser Minderheit untersucht. Wir haben die Sektoren Wirtschaft, Kultur, Politik, Kirche, Vereine, Verbände usw. nach Methoden der Sozialwissenschaften aufgearbeitet. Schliesslich fassten wir in Empfehlungen zusammen, was zu einem besseren Auskommen und Miteinander der Sprachgemeinschaften beitragen kann: Im Oberwallis fühlen sich viele durch die französischsprachige Mehrheit im Kanton arg bedrängt, wirtschaftlich, politisch und kulturell in die Zange genommen und in die Ecke gedrängt. Es gibt für sie einen „Graben“ und kulturell wenig Verbindendes. Auch die Forderung nach einem Halbkanton Oberwallis ist zu hören. Gesamthaft schält sich aber doch das Bild heraus, dass man zusammen auskommen will.

Gross- und Staatsratswahlen in den Medien zeugen vor allem davon, dass die allermeisten Kandidat*innen von der einschlägigen Fachliteratur kaum eine Ahnung haben. Die „Probleme“, die sie als grosse Herausforderung angehen und zu lösen gewillt sind, sind zumeist bereits angegangen worden und Lösungsvorschläge lägen auf dem Tisch. Wie aber will man die seit Jahrzehnten ungelösten Probleme endlich einer Lösung zuführen, wenn man die wissenschaftlich ausgearbeiteten und in Buchform vorliegenden Lösungsvorschläge gar nicht kennt, weil das Bücherlesen bei Kandidat*innen für politische Ämter eher eine Randerscheinung ist?

Politiker lesen Paulo Coelho. Als unser gewiefter und bestens aufgestellter Oberwalliser Staatsrat kürzlich im Fernsehen Kanal 9 verkündete, er habe während der letzten Jahre kaum Bücher gelesen, war ich schon etwas enttäuscht. Auf dringende Nachfrage der Moderatorin ist ihm dann doch noch ein Buch eingefallen. Immerhin, vor Jahren habe er Paulo Coelho gelesen, sagte er. Und der Titel des Buches? „Elf Stunden“, meinte der Staatsrat. Seine Fangemeinde wird aber wohl vergeblich nach dieser staatsrätlichen Lektüre suchen. Der Roman von Paulo Coelho heisst nämlich „Elf Minuten“. Aber immerhin. Das Thema ist fast genau so wichtig wie eine Lektüre über „Alltagsbeziehungen zwischen Ober- und Unterwallisern“. In „Elf Minuten“ von Paulo Coelho geht es gar um noch viel wichtigere Fragen: Wie berührt man die Seele? Durch Liebe oder Lust? Kann man die Seele wie einen Körper berühren und umgekehrt? Paulo Coelho hat da ein provozierendes Märchen über die Alchemie der Liebe geschrieben. Schon klar, da kommt eine knallharte Studie über die alltäglichen Beziehungen zwischen Deutsch und Welsch niemals ran. Niemals.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig