Der ungelöste Fall von Zimmer 622 in Verbier

Im Zimmer 622 des noblen Hotel Palace in Verbier geschah ein mysteriöses Verbrechen. (Symbolbild Kurt Schnidrig)

Im neusten Roman von Bestseller-Autor Joël Dicker ist die Unterwalliser Touristen-Station Verbier der Schauplatz eines bisher ungeklärten Mordfalls. Im noblen Hôtel Palace de Verbier ist ein Zimmer mit der Nummer 622 aufgeführt, das offiziell gar nicht existiert. In diesem geheimnisvollen Zimmer geschah in einer dunklen Dezembernacht ein fürchterliches Verbrechen mit Mord und Totschlag. Der Mordfall wurde jedoch nie aufgeklärt. Ein paar Jahre später verbringt der bekannte Schriftsteller Joël Dicker seine Ferien in eben diesem Hôtel Palace de Verbier. Er macht Bekanntschaft mit einer überaus charmanten Frau namens Scarlett Leonas. Dabei ahnt er nicht, dass er und seine neue Bekanntschaft in den ungelösten Mordfall von Zimmer 622 einbezogen und verwickelt werden. Die Roman-Story dreht sich um eine Dreiecks-Geschichte, es geht um Macht, Eifersucht und Verrat in noblen Kreisen unserer Gesellschaft.

Der Autor als Protagonist seines Romans. In Frankreich und in der Westschweiz ist Joël Dicker ein Erfolgs-Autor. Für einen seiner Romane hat er gar den „Grand Prix du Roman“ von der renommierten Académie Française erhalten. In Frankreich zählt der 35-jährige Dicker zu den meistgelesenen frankophonen Autoren. Dass der erfolgsverwöhnte Schriftsteller sich jetzt in seinem neusten Roman mit einem Kriminalfall in den Walliser Alpen befasst, müssten wir Walliser demnach wohl dankbar als Glücksfall betrachten. Müssten wir, tun wir aber nicht. Denn da ist der ominöse „Röstigraben“, der die deutschsprachige Literatur von der frankophonen Literatur nicht nur sprachlich, sondern vor allem auch inhaltlich, konzeptuell und auch literaturtheoretisch fundamental unterscheidet. Und dies, obschon der Roman eigens auch noch in deutscher Sprache erschienen ist. (Joël Dicker: Das Geheimnis von Zimmer 622. Piper Verlag 2021, 624 Seiten).

Die Klischees einer Glamour-Welt. Die deutschsprachige Literatur-Kritik hat Mühe mit Joël Dickers bemüht glamourös beschriebener Roman-Szenerie, insbesondere mit dem Setting inmitten der noblen Grand-Hotels und der Genfer Privatbanken. „Dicker erzählt so klischiert, dass es schmerzt“, resümiert etwa die NZZ und führt Joël Dickers Roman sogar unter der Rubrik „Bücher, die Sie sich sparen können“. Da tun sich Welten auf zwischen der frankophonen und der deutschsprachigen Literatur-Rezeption. Was die frankophone Autorenschaft von jener im deutschsprachigen Raum unterscheidet? Vielleicht sind es die umständlich verschachtelten Handlungsebenen und die ungemein langfädigen Dialoge. Das elegante und kurzweilige Schreiben ist wohl eher eine Domäne der deutschsprachigen Autor*innen. Bei derartigen Einschätzungen und Verallgemeinerungen ist allerdings Vorsicht geboten, will man nicht zusätzlich noch Gräben aufreissen und Vorurteile zementieren.

Meine persönliche Einschätzung. Der 600-seitige Schmöker ist Krimi und Liebesgeschichte zugleich. Der Autor legt viele Fährten, als Leser dürfen wir genussvoll miträtseln. Die sich überlagernden Handlungs-Ebenen bedingen allerdings ein äusserst konzentriertes Lesen, dazu auch ein gerüttelt Mass an Neugier, um das Geheimnis von Zimmer 622 zu lüften. Die Story verrät einen geübten und versierten Autor als Komponisten. Die Walliser Schauplätze in Verbier verfügen allerdings kaum über Lokalkolorit, vieles ist überzeichnet und driftet ab ins Glamouröse, in die Welt der Reichen. Es ist dies eine (Roman-) Welt, die sich überall ähnlich präsentiert, in einer Walliser Touristenstation ebenso wie in einer Genfer Privatbank. Der Plot des Romans gibt sich reichlich verschachtelt. Langatmige und handlungsferne „Füllsel“ sabotieren die Detailspannung. Routinierte Leser*innen dürften es trotzdem schaffen, den Krimiplot nicht aus dem Blick zu verlieren.

Weiter im Eigenverlag – ein Trend im Literaturbetrieb? Erfolgreiche Literaten, die zusätzlich auch noch über ein bestens ausgebautes literarisches Beziehungs-Netz verfügen, wählen je länger je mehr den Weg in die Selbstständigkeit. Wer über die notwendigen Kompetenzen verfügt, verabschiedet sich nicht selten aus dem Verlagswesen und ist Autor, Verleger und Herausgeber in einer Person. Über die Gründe, die zu dieser Trendwende im Literaturbetrieb führen, kann nur spekuliert werden. Bestseller-Autor Joël Dicker jedenfalls verlässt die Edition, für die er zehn Jahre lang geschrieben hat. Auf den 1. Januar 2022 will Dicker seinen eigenen Verlag gründen.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum „Geheimnis von Zimmer 622“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Rafael Heinen)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig