Die gefährliche Leichtigkeit des Denkens

An der Klagemauer in Jerusalem: Auch für Andersgläubige ein Ort der Besinnung. (Foto: Kurt Schnidrig)

Wer in die Jahre gekommen ist, der hat sich zuweilen auch unbequemen Fragen zu stellen. Zum Beispiel dieser quälenden Frage: Was würdest du anders machen, könntest du dein Leben nochmals beginnen? Hannah Arendt, die bedeutendste Philosophin und Forscherin des letzten Jahrhunderts, lebte und wirkte in New York, Paris, Berlin und Rom. Überall erntete sie die reifen Früchte einer grandiosen philosophischen Tätigkeit. Die Leichtigkeit des Denkens war ihr bereits in die Wiege gelegt. In Israel allerdings zeigte sich, welch grosse Gefahr die Leichtigkeit des Denkens in sich birgt. 68-jährig, flüchtete Hannah Arendt ins kleine Tessiner Dörfchen Tegna, um eine quälende Lebenskrise zu verarbeiten. Ihre Leichtigkeit des Denkens hatte ihr harsche Kritik des Judentums eingebracht. Die jüdische Intelligenzia warf ihr vor, Verständnis zu wecken für die abscheulichen Verbrechen der Nazis und für den Massenmord an sechs Millionen Juden.

„Was wir scheinen“ – diesen Titel trägt das Buch der Schweizer Literaturwissenschaftlerin Hildegard Keller. Sie hat sich im Tessiner Dorf Tegna auf Spurensuche nach Hannah Arendt begeben. Hildegard Keller doziert Storytelling an der Universität Zürich. Sie schreibt auch für Film und Theater. Ihre Spezialität besteht darin, grossartige Frauengestalten aus der Historie zurück ins Leben zu holen. In ihrem ersten Roman lässt sie nun nochmals Hannah Arendt zu Worte kommen, sie lässt die grosse Philosophin argumentieren, die weltgewandte Philosophin, die den Weltstädten den Rücken gekehrt und in Tegna ihre Ruhe gesucht hatte. Geplagt von quälenden Fragen und Schuldgefühlen. Hat sie das Böse verharmlost? Hat sie die Nazi-Verbrechen als eine „Banalität des Bösen“ kleingeredet?

Die Berichterstattung über den „Eichmann-Prozess“ in Jerusalem scheint Hannah Arendt zum Verhängnis geworden zu sein. Als Publizistin verfolgte sie nach dem Zweiten Weltkrieg den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der für die Ermordung von Millionen Juden mitverantwortlich zeichnet. Nach dem Erscheinen ihres Buches „Eichmann in Jerusalem“ entstand weltweit eine Kontroverse über Hannah Arendts Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und seinen Exponenten. Israel und das Judentum warfen Hannah Arendt vor, in ihren Berichten mehr Verständnis für die Täter als für die Opfer an den Tag gelegt zu haben. Die Anschuldigungen der jüdischen Intelligenzia kulminierten im harschen Vorwurf, dass sie den Massenmord an den Juden verharmlose und Verständnis wecke für die Täter.

„Schreiben ist Erfinden, Fantasieren, Erinnern, Empfinden, Wissen und Reflektieren, alles, was mich zu der macht, die ich bin.“

Hildegard Keller

Hildegard Keller zeigt in „Was wir scheinen“, dass Unabhängigkeit im Denken wichtig ist. Sie lässt uns Bekanntschaft schliessen mit der Philosophin und Publizistin Hannah Arendt, wir begleiten sie während ihres Aufenthalts im Tessin. Dabei versuchen wir zu verstehen, weshalb Hannah Arendt auf ihrer Suche nach dem wahren Sein den Mainstream verlassen hat. Ernüchtert und besorgt stellen wir fest, dass die Unabhängigkeit des Denkens ihren Preis hat. Es ist dies die gefährliche Leichtigkeit des Denkens.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Buch „Was wir scheinen“.
(Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Petra Wysseier)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig