Erinnerung an Professor Hermann-Josef Venetz

Professor Hermann-Josef Venetz bei der Präsentation seines Buchs „Der Evangelist des Alltags“ in Brig. (Foto: Kurt Schnidrig)

Mit Professor Hermann-Josef Venetz ist vergangene Woche auch ein grossartiger Literat und Publizist von uns gegangen. Von 1975 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 hatte er als Professor für neutestamentliche Exegese und Theologie in Freiburg gewirkt. Ich traf ihn in Brig bei der Präsentation eines seiner Bücher, das bis heute ein Bestseller ist und nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat. Das Buch trägt den Titel „Der Evangelist des Alltags. Streifzüge durch das Lukasevangelium“. Keine Schreibtischtheologie erwartet uns, sondern eine spannende und zuweilen pointierte Entdeckungsreise hinter die Kulissen des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte.

Erzählerisch-bezaubernde Theorie. Als Autor führte uns Hermann-Josef Venetz vor Augen, wie viele Register Lukas zur Verfügung hatte, um sein Evangelium zu schreiben. Was Venetz resümierend für das Werk des Evangelisten Lukas festhält, darf getrost auch für seine persönlichen Traktate festgehalten werden: Theorie braucht nicht satzhaft-langweilig zu sein, sie kann auch erzählerisch-bezaubernd sein. Das unter dem Titel „Der Evangelist des Alltags“ erschienene Buch wirft allerdings auch unbequeme Fragen auf und demontiert manche Idylle. Hermann-Josef Venetz holt jene zurück auf den Boden der Realität, die den Evangelisten Lukas als romantischen Schreiber von Geschichten schubladisiert haben. Er hält an verschiedenen Stationen des Lukas-Evangeliums inne und stellt diese typischen Stellen seinen Leser*innen vor.

„Warum sollte man heutigen Theologinnen und Theologen unbequeme und herausfordernde Fragestellungen verbieten?“

Hermann-Josef Venetz

Theologische Herausforderungen. Mit zahlreichen Beispielen verdeutlicht der Autor, wie sich die damaligen Theologen, besonders auch die Evangelisten, von den Fragestellungen der Zeit herausfordern liessen. „Warum sollte man heutigen Theologinnen und Theologen ein entsprechendes Vorgehen verbieten?“ Diese rhetorische Frage richtete der Autor inmitten seiner Ausführungen recht unvermittelt an uns Zuhörende. Wie schon damals, müsse auch heute Theologen aller Schattierungen dieser Anspruch zweifellos zugestanden werden, beantwortete Venetz diese seine Frage gleich selbst.

Professor Hermann-Josef Venetz liebte die spannende und herausfordernde Konfrontation mit seinem Publikum. (Foto: Kurt Schnidrig)

Entgegen der weihnachtlichen Romantik. Wer könnte folgende Geschichte nicht auch auswendig weiterführen: „In jenen Tagen erging ein Erlass des Kaisers Augustus…“ (Lk 2, 1). Nein, das sei keine Weihnachtserzählung, belehrte uns Hermann-Josef Venetz. Um Widersprüchlichkeiten oder gar Ungeheuerlichkeiten im so genannten „Weihnachtsevangelium“ wahrzunehmen, empfahl der Autor, den Erzählkranz um Verkündigung und Geburt auch mal ausserhalb der Weihnachtszeit bar von jeglicher „weihnachtlicher Romantik“ zu lesen. Eindrücklich führte er uns vor Augen, wie das so gerne zur Idylle gestylte Weihnachtsevangelium in Tat und Wahrheit von höchst politischer Brisanz ist. Ein Zeichen sollte gesetzt werden.

„Ein Kind wurde in einem Futtertrog geboren, das mit jedem x-beliebigen obdachlosen Kind zu verwechseln ist.“

Die Weihnachtsgeschichte im Venetz’schen Fachjargon

Zurück auf den Boden der Realität. Manch einer mag sich bei derartiger Rede gefragt haben, was denn noch bleibt. Die Antwort darauf bleibt uns Professor Venetz keineswegs schuldig: Es handle sich bei Lukas um einen genialen Erzähler, dem klar geworden sei, dass man über die wichtigsten Dinge im Leben nur in bezaubernden Geschichten, Bildern, Gleichnissen und Hymnen erzählen und singen könne. Was aber sind diese „wichtigsten Dinge“? Die Antwort lautet: Jesus ist der Anwalt und Heiland der Benachteiligten, der Armen, der Sünder und der Frauen. Man beachte die Einbettung der Frauen in diese Aufzählung bemitleidenswerter Personen.

„Könnte es sein, dass nicht zuletzt Frauen es waren, die das Wort Gottes exemplarisch hörten und befolgten?“

Hermann-Josef Venetz in: „Der Evangelist des Alltags“

Frauengestalten prägen die Ereignisse. Tatsächlich sind es die Frauengestalten, welche die Ereignisse, von denen das Evangelium berichtet, zusammenhalten: das Auftreten Jesu in Galiläa, sein Wirken und Sterben, sein Begräbnis, das leere Grab, den Hinweis der Engel auf die Auferstehung und schliesslich den Gang zu den Jüngern, um ihnen von den Geschehnissen zu künden.

Professor Hermann-Josef Venetz – argumentierend und herausfordernd.
(Foto: Kurt Schnidrig)

Lukas – ein kreativer Geschichtenerzähler? Diese Frage stellte Professor Venetz herausfordernd in den Raum. Was aber ist mit den vielen historischen Daten, die im Lukasevangelium festgeschrieben sind?, wagte ich einzuwenden. Die historischen Daten dienen lediglich dazu, den Menschen Sicherheit zu geben, antwortete Professor Venetz. Was geschehen sei, dürfe nicht einfach so zerrinnen, zerbröseln und sich auflösen. Um abzusichern und zu „speichern“, sei Lukas bereit, ein paar Pflöcke einzuschlagen, damit die Geschichte nicht einfach entweicht. Hier greife das „lukanische Sicherheits-Konzept“, resümierte Venetz schmunzelnd. Im Übrigen aber – so stelle die moderne Theologie fest – sollen die Kenntnisse des jüdischen Hintergrunds dieser Ereignisse beim Evangelisten Lukas nicht besonders gross gewesen sein. Palästina hätte demnach lediglich als Rahmen für das öffentliche Wirken Jesu, das Lukas als Weg Jesu nach Jerusalem gestaltet, gedient.

Mit grossem literarischem Geschick. Hymnen, Gleichnisse und Erzählungen verraten – gemäss Venetz – die grossartige Gestaltungskraft des Evangelisten Lukas. Wie Professor Venetz detailgetreu belegen konnte, weisen sogar Jesusworte einen eigenen, bei Lukas typischen Akzent auf. Er attestierte dem Evangelisten Lukas grosses literarisches Geschick und bewunderte dessen wache Wahrnehmung der Wirklichkeit sowie sein Verständnis gegenüber dem Menschlichen-Allzumenschlichen. Erzählungen hätten den Vorteil, einladend zu sein und weniger frontal, schlussfolgerte Venetz.

„Erzählungen ermuntern zum Mitspielen. Die Christinnen und Christen sollen zu Mitspielern des Evangeliums werden.“

Hermann-Josef Venetz

Die Begegnungen mit dem Neutestamentler Hermann-Josef Venetz waren immer hoch spannend und aufschlussreich. Eine Frage, die er aus meiner Sicht – vielleicht absichtlich? – unbeantwortet liess, ist die folgende: Bedeutet diese schonungslose Auslegung und Interpretation des Lukasevangeliums für uns Heutige auch ein Abschiednehmen von falschen Romantisierungen und von falschem Sicherheitsdenken?

Text und Fotos: Kurt Schnidrig