Karfreitag in Jerusalem

Blick auf den Ölberg, der die Altstadt von Jerusalem um 100 Meter überragt. (Foto: Kurt Schnidrig)

In den vergangenen zwei Jahrzehnten war ich viermal in Israel und in den palästinensischen Gebieten. Erstmals 1995, als Ministerpräsident Rabin an einer Friedensdemo von einem jüdischen Extremisten erschossen wurde, dann als Korrespondent für eine Zeitung, als Netanjahu zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Ein drittes Mal organisierte ich als Präsident des Laufsportverbandes einen Friedenslauf von Bethlehem über Jerusalem bis nach Tel Aviv. Zu den eindrücklichsten Erlebnissen zählten für mich die Ereignisse und Geschehnisse, die sich jeweils am Karfreitag zwischen dem Ölberg, der Grabeskirche und der Via Dolorosa abspielten.

Im Garten Gethsemane mit der „Kirche der Nationen“ beginnt die Wanderung auf den Ölberg, der die Altstadt um 100 Meter überragt. Den knorrigen Olivenbäumen im Garten wird ein biblisches Alter zugesprochen: Sie sollen hier schon gestanden haben, als Christus vor seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane betete und von Judas verraten wurde.

Wer weihevolle Ruhe sucht, der ist in der Grabeskapelle am falschen Ort. (Foto: Kurt Schnidrig)

Die überladene Grabeskapelle ist gemeinschaftlicher Besitz von nicht weniger als sechs christlichen Konfessionen. Die Katholiken, die Armenier, die Griechisch-Orthodoxen, die Syrisch-Orthodoxen, die Kopten und die Äthiopier teilen sich in der Besorgung und Pflege dieses heiligsten Ortes der Christenheit. Inmitten der Grabeskapelle befindet sich ein mit Marmor getäferter Raum. Darin eingelagert ist eine zwei Meter lange Grabplatte, die das Grab Jesu abdeckt. In diesem Raum können sich immer nur ganz wenige Menschen zur gleichen Zeit aufhalten. Ein männlicher Angehöriger einer der sechs Konfessionen regelt jeweils den Zugang. Ganz wichtig: Welcher wahrhaft Gläubige geht am Grab des Herrn vorbei, ohne demutsvoll eine Spende in Form einer oder gleich mehrerer Banknoten in – oder manchmal auch demonstrativ auf – die überall aufgestellten Opferstöcke zu legen (vgl. Bild oben). Um es geradeheraus zu sagen: Wer weihevolle Ruhe sucht, ist in der Grabeskirche am falschen Ort.

Die Via Dolorosa wird besonders am Karfreitag, grundsätzlich aber auch an jedem Freitag das ganze Jahr über, begangen von Prozessionen. Jeden Freitagnachmittag folgt eine Franziskanerprozession dem Leidensweg Christi; Ausgangspunkt ist dabei die ehemalige Festung Antonia.

Die Via Dolorosa führt in neun Stationen durch die Altstadt und hinauf zur Grabeskirche. (Foto: Kurt Schnidrig)

Das Jerusalem-Syndrom. Am Karfreitag werden in Jerusalem jedes Jahr aus völlig normalen Touristen falsche Jesusse, falsche Jungfrauen Maria, falsche Apostel oder auch mal ein falscher Gott. Es handelt sich dabei um eine Psychose, um eine psychische Erkrankung. In der Literatur ist das Phänomen bekannt als das „Jerusalem-Syndrom“. Viele fromme Christen wollen am eigenen Leib nachempfinden, wie es Jesus auf dem Weg zur Hinrichtung ergangen ist. Doch für einige ist das Erlebnis in der Heiligen Stadt so überwältigend, dass sie plötzlich den Boden der Realität unter den Füssen verlieren. Sie haben religiöse Visionen und Halluzinationen. Dies geht so weit, dass sie die eigene Persönlichkeit aufgeben und eine biblische Figur werden. Wer vom „Jerusalem-Syndrom“ heimgesucht wird, der muss in die Psychiatrie eingeliefert werden. Bei einigen reicht zum Abklingen der akuten Psychose manchmal auch schon die Heimreise.

Das Spektakel an der Via Dolorosa faszinierte mich in meiner Eigenschaft als leidenschaftlicher Theater-Regisseur jedes Mal aufs Neue. Bei meinem letzten Besuch beobachtete ich einen Jesus aus Kalifornien. Er trug seine Haare schulterlang, auf dem Kopf sass eine Dornenkrone und sein nackter Oberkörper war mit Blut (Ketchup?) bespritzt. Und dann diese Mimik! Mit einer Leidensmiene, die mir kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen liess, schleppte er das schwere Holzkreuz durch den „schmerzhaften Weg“, die Via Dolorosa.

Wer am „Jerusalem Syndrom“ erkrankt ist, der wird in die geschlossene Psychiatrie Kfar Shaul eingeliefert. Gregory Katz, so hiess damals der Direktor der psychiatrischen Notaufnahme des Kfar-Shaul-Spitals. Er therapierte die akuten Fälle vorerst mit Beruhigungsmitteln. Einmal habe er drei Jungfrauen Maria gleichzeitig beherbergt, verrät er. Und er sagt: „Wenn man es nicht selbst gesehen hat, glaubt man es kaum. Es ist ein sehr dramatischer Zustand.“ Einmal habe er einen Messias zum anderen ins Zimmer gelegt. Die zwei Messiasse hätten sich dann gegenseitig beschuldigt, Betrüger zu sein.

(Aus: Kurt Schnidrig: „Ein Leuchtturm in der Finsternis“, Seiten 296-307. Darin auch mehr über Krieg und Frieden im Heiligen Land und über persönliche Reiseerlebnisse in Israel und in den palästinensischen Gebieten.)

Text und Fotos: Kurt Schnidrig