Aus dem Lockdown geflohen

Geflohen aus dem Lockdown der Grossstadt aufs Land: Der Roman von Juli Zeh ist „das Buch der Stunde“. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Juli Zeh heisst bürgerlich Julia Barbara Finck. Sie ist eine deutsche Schriftstellerin, Juristin und Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg. Sie hat sich einen Namen geschaffen durch ihr gesellschaftlich-politisches Engagement. Neben ihrer literarischen Arbeit betätigt sie sich auch journalistisch und schreibt Essays für die grössten Zeitungen Deutschlands. Ihr neuer Roman „Über Menschen“ gilt als „das Buch der Stunde“. Dies ganz einfach deshalb, weil das Buch davon handelt, was viele von uns zurzeit in diesen unsäglichen Corona-Zeiten beschäftigt: Es geht um das Eingeschlossensein im Lockdown der Städte, um die Einsamkeit in virenverseuchten Zeiten, um die verstörende Angst vor der Pandemie und folgerichtig um die coronabedingte Flucht aus der Stadt aufs Land.

Macht Corona uns zu Flüchtlingen? Welche Vorteile soll die Flucht aus einer Stadt, die sich im Lockdown befindet, mit sich bringen? Viele Stadtflüchtlinge suchen auf dem Land eine verloren gegangene Idylle. Sie suchen so etwas wie ein letztes Paradies. Im Roman von Juli Zeh flüchtet die Protagonistin Dora aus der Grossstadt Berlin in ein kleines Paradies auf dem Land, in ein kleines fiktives Dorf namens Bracken.

„Es klingt nach einer Mischung aus Brachen und Baracken. Oder nach einer Tätigkeit, die auf Baustellen ausgeübt wird, unter starker Lärmentwicklung mit schwerem Gerät. Morgen wird gebrackt.“

Aus: „Über Menschen“ von Juli Zeh

Eine Alternative zum Stadtleben sucht Dora im Roman von Juli Zeh. Sie möchte herausfinden, wie sie alternativ leben kann. Bald schon wird uns beim Lesen klar: Corona ist nur die Kulisse, vor der sich Doras Lebensgeschichte abspielt. Viele Probleme waren schon zuvor da: Der Klimawandel, die Landflucht, die Bildungsmisere. Ganz alleine auf sich selbst gestellt, möchte Dora in dem kleinen Dörfchen Bracken ein verwildertes Stück Erde in einen „romantischen Landhausgarten“ verwandeln. Darauf möchte sie Gemüse und alles Lebenswichtige anbauen.

„Weil Tomaten, Möhren und Kartoffeln täglich davon erzählen würden, dass sie alles richtig gemacht hat. Dass der plötzliche Kauf eines alten Gutsverwalterhauses, sanierungsbedürftig und fernab aller Speckgürtel, keine neurotische Kurzschlussreaktion war, sondern der nächste logische Schritt auf dem Wanderweg ihrer Biographie.“

Aus: „Über Menschen“ von Juli Zeh

Dora ist kein typischer Stadtflüchtling. Es geht um mehr als um eine Flucht aus der Stadt aufs Land. Geflüchtet ist Dora auch vor ihrem Freund Robert. Seit das Corona-Virus grassiert, hat sich Robert verändert. Er ist zur Überzeugung gelangt, dass er, und nur er, diese Welt noch retten kann. Robert fühlt sich als irdischer Katastrophen-Manager. Wie vergiftet tüftelt er an Lösungen für Probleme wie Lockdown, Mortalität und Triage. Roberts Corona-Besessenheit hat Dora ein Zusammenleben mit ihm verunmöglicht. Mit Hund und Rucksack hat sie sich schlussendlich aufs Land abgesetzt.

„Er wollte Gefolgschaft. Er wollte ihr Sträuben bezwingen. Er wollte, dass sie einen Treueschwur auf die Apokalypse leistete, und wurde immer wütender auf ihren heimlichen Trotz.“

Aus: „Über Menschen“ von Juli Zeh

Das Klischee vom idyllischen Landleben. Die neue Heimat auf dem Land gerät für Dora zum Kulturschock. Der Supermarkt ist weit weg, kein Auto als bequemes Transportmittel vor der Haustür.

„Bröckelnde Strassen, halb eingestürzte Scheunen und Ställe, von Efeu überwucherte ehemalige Kneipen.“

Aus: „Über Menschen“ von Juli Zeh

Und dann diese seltsamen Dorfbewohner! Ein bekifftes Schwulen-Pärchen, ein bedrohlicher Nachbar, der sich als „Dorf-Nazi“ outet. Der Traum vom idyllischen Landleben entpuppt sich als ein Klischee. Aber trotzdem. Trotzdem will Dora weitermachen. Sie lebt ihren Traum vom neuen Leben trotzdem. Denn schlussendlich geht es um nichts weniger als um das Überleben.

„Weitermachen ist die einzig sinnvolle Antwort auf das Weitergehen. Die einzige Chance auf Anpassung an das Ungeheuerliche.“

Aus: „Über Menschen“ von Juli Zeh

Das Zauberwort heisst „trotzdem“. Viele von uns sind gezeichnet und traumatisiert von den vergangenen 400 Tagen einer virenverseuchten Zeit. Keine Umarmung, keine Nähe, Ausgrenzung und Abstand halten allenthalben. Dazu die ständige Angst, sich mit dem vermaledeiten Virus zu infizieren. Und nicht zuletzt die unzähligen Epidemiologen und Virologen, die täglich mit neuen Schreckensszenarien aufwarten, häufig wissenschaftlich dürftig abgesichert, nur einfach so als Warnung. Trotzdem. Die Jugend feiert heimlich, die Erwachsenen steigen auf die Barrikaden. Oder flüchten. So wie Dora. Irgendwohin, wo es noch ursprünglich ist. Das Zauberwort heisst „trotzdem“. Trotzdem weitermachen, trotzdem da sein. Und hoffen. Hoffen auf ein neues goldenes Zeitalter.

Hören Sie den Original-Podcast in voller Länge zum Roman „Über Menschen“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Christina Werlen)
Hören Sie den Buchtipp zu Juli Zeh aus der Sendung „Literaturwelle“ im Live-Programm. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Rafael Heinen)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig