Frühling in der grauen Stadt

Eine Tafel in der „grauen Stadt“ Husum an der Nordsee erinnert an das Frühlingserwachen in den Herzen der Menschen. (Foto: Kurt Schnidrig)

Während wir hier in unseren Breitengraden lauthals über den stürmischen und verregneten Monat Mai klagen, geht vergessen, dass Frühlingsstürme und Regen im Mai nun mal zum Frühling gehören, und dass eigentliches Frühlingserwachen einzig in den Herzen der Menschen stattfindet. Die Menschen in den sturmumtobten Städten an der Nordsee haben dies verinnerlicht und ihre Dichter haben das Frühlingserwachen in den grauen Städten des Nordens besungen und beschrieben. Von Theodor Storm stammen die Zeilen: „Am grauen Strand, am grauen Meer und seitab liegt die Stadt; der Nebel drückt die Dächer schwer, und durch die Stille braust das Meer eintönig um die Stadt“. Die widerliche Witterung an der Nordsee hat notgedrungen zahlreiche Dichter*innen dazu ermutigt, den Frühling in den Herzen der Menschen, im Zauber der Jugend oder in einem Lächeln zu entdecken. In diesem Frühjahr sind auch die Dörfer und Städte hier bei uns grau, und der Sturm drückt auch unsere Dächer schwer. Doch scheinen uns die Dichter des Frühlings abhanden gekommen zu sein. Ein Besuch bei den „Nordlichtern“ oben an der Nordsee kann ein Anstoss sein, den Frühling nicht bloss in unseren regenverhangenen Dörfern an allen Ecken und Enden zu suchen.

In der Theodor-Storm-Stadt Husum erlebte ich bei meinem letzten Besuch im berühmten Schlossgarten das „Blütenwunder“, das in Storms Novelle „Aquis submersus“ wundervoll beschrieben ist. Heute sind die Rasenpartien des ganzen Parks in jedem Frühjahr mit blauen Krokusblüten übersät, die die Franziskanermönche hier heimisch gemacht haben sollen. In dem Gedicht „Unter den Tannen“ geht Storm auf dieses Blütenwunder ein:

„Sonnenschein auf grünem Rasen, / Krokus drinnen blau und blass; / Und zwei Mädchenhände tauchen / Blumen pflückend in das Gras.“

Theodor Storm: „Unter den Tannen“
Ein Besuch im Schlossgarten der Theodor-Storm-Stadt Husum an der Nordsee, wo im Frühling das „Blütenwunder“ bestaunt werden kann. (Foto: Kurt Schnidrig)

Von Theodor Storm (1817-188) zu Emma Sternberg , geboren 1979. In den Buchhandlungen an der Nordsee sind Dutzende Bücher der Autorin Emma Sternberg aufgelegt. Wie Storm ist auch sie ein echtes Nordlicht. Emma Sternberg arbeitet beim Radio und schreibt leidenschaftlich Romane. Es sind dies bestimmt keine „Klassiker“ wie die Bücher von Theodor Storm. Was Emma Sternberg jedoch mit Theodor Storms Werken verbindet, das ist ihr dichterisches Anliegen, vermehrt Frühlingsblau und Lebensfreude in die grauen Städte des Nordens zu zaubern. Die lebenslustige Schriftstellerin hat schon an den unterschiedlichsten Orten gelebt – Berlin, Frankfurt, Oberbayern – aber am schönsten ist es – wie weiland bereits für Storm – in den grauen Städten des Nordens, an der Nordsee, denn sie bilden die Kulissen für ihre Geschichten. Ihre Werke „Fünf am Meer“ und „Azurblau für zwei“ versprühen reine Lebensfreude und lassen einen beim Lesen in die Ferne schweifen. Mit viel Wortwitz und mit angenehmer Leichtigkeit schafft sie es, aufmunternde und zugleich fesselnde herzerwärmende Geschichten zu erzählen.

„Ein Garten für zwei“ – so heisst der neuste Roman von Emma Sternberg. In der Geschichte begleiten wir die Protagonistin Luise auf einer Reise zu sich selbst. Nach einem tragischen Todesfall wird das Leben in der grauen Stadt nicht mehr wie es einmal war. Luise will nicht mehr in ihr altes Leben zurück. Zu diesem Zeitpunkt entdeckt sie den Garten ihres verstorbenen Bruders. Der Garten ist verwildert und lockt zu einem Neuanfang. Wie dereinst zu Zeiten des Biedermeiers, führt uns die Autorin Emma Sternberg vor Augen, dass häufig auch kleine Dinge unser Leben verändern können. So sehen wir ihrer Protagonistin Luise bei deren Entwicklung zu, wie sie aus dem grauen Alltag ausbricht und inmitten der aufblühenden Natur zu sich selber findet. Eine Schrebergarten-Idylle? Vielleicht. Wenn jedoch den vergangenen Monaten der Pandemie auch etwas Positives anhaftet, dann ist es diese Wiederentdeckung des Naheliegenden, des Unscheinbaren und des eigenen Mikrokosmos innerhalb einer unpersönlichen und grau gewordenen globalisierten Welt.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig