Lässt sich in Paris der „Rilke-Code“ entschlüsseln?

Legt Rainer Maria Rilke in seinem einzigen Roman, der in Paris spielt, die Spuren zum Verständnis seiner Dichter-Persönlichkeit? (Foto: Kurt Schnidrig)

Seit nunmehr hundert Jahren fasziniert und polarisiert der Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) nicht nur die Fachwelt, sondern auch Forschende aus fast allen Bereichen des wissenschaftlichen Lebens. So rätselhaft und widersprüchlich wie der Grabspruch auf seiner letzten Ruhestätte in Raron, so rätselhalft und widersprüchlich war auch sein Leben. Die allermeisten Interpretations-Versuche nehmen Rilkes Gedichte zum Ausgangspunkt. Insbesondere über Rilkes prägende Kindheits- und Jugendjahre jedoch ist bisher wenig an die Öffentlichkeit gedrungen. Die Codierungen in Rilkes Poesie lassen sich kaum entschlüsseln, was zahlreiche höchst unterschiedliche Interpretationen belegen. Einige Rilke-Forschende gehen jedoch davon aus, dass einige der Geheimnisse um Rilkes Persönlichkeit im einzigen Roman zu entdecken sind. Dieser einzige Rilke-Roman spielt in Paris und trägt den Titel „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Lässt sich in Paris der „Rilke-Code“ entschlüsseln?

Rainer Maria Rilkes erste Eindrücke eines Pariser Aufenthalts in den Jahren 1902/03 verarbeitete dieser in einem auffälligen und für seine Zeit völlig unkonventionellen „Roman“. Das Werk nimmt bis heute in der deutschen Literaturgeschichte eine Sonderstellung ein. Rilke nannte das Werk stets „Prosabuch“, niemals benutzte er dafür den Begriff „Roman“. Der äusseren Form nach entspricht das Werk einem fingierten Tagebuch mit einer fingierten Figur namens Malte. Das Werk kennt keinen Erzähler, wohl aber einen 28-jährigen Tagebuchschreiber aus einem aussterbenden Adelsgeschlecht, der nun in Paris ein Leben als Dichter zu fristen versucht. Das „Prosabuch“ weist keine kontinuierliche Handlung auf. Vielmehr sind es 71 Aufzeichnungen, die in loser Aneinanderreihung aufeinander folgen. Die Erzählstruktur ist nicht linear, vielmehr sind die Eintragungen gemäss einer thematisch-motivischen Anordnung analog oder antinomisch (widersprüchlich, sich selbst widersprechend) verknüpft. Bereits der seltsam ungewohnte und für seine Zeit geradezu revolutionäre Aufbau des Prosawerks könnte darauf hindeuten, dass Rilke hier – zumindest in groben Zügen – seine Autobiographie abgeliefert hat.

Diese Betrachtung der eigenen Lebens-Wirklichkeit erinnert an einen Dichterkreis um Franz Kafka, Robert Walser und James Joyce. Sie hatten als Zeitgenossen Rilkes ihre autobiographischen Schriften in ähnlicher Form veröffentlicht. Zusätzlich waren es Einflüsse der Gedichte Baudelaires und der gesamten Décadence-Literatur anfangs des 20. Jahrhunderts, welche Rilkes einziges (autobiographisches?) Prosawerk zu einem geheimen Code werden lassen, das den Schlüssel birgt zum Verständnis von Rilkes Leben.

Die Menschen der Grosstadt Paris haben Rilke gelehrt, sich seiner selbst bewusst zu werden und „das Schauen zu lernen“. Bild: Eine Malerin auf dem Montmartre. (Foto: Kurt Schnidrig)

Einen Bewusstseins-Strom (stream of consciousness) hatte das Leben in der Grossstadt Paris bei Rilke ausgelöst. Der Begriff findet sich ebenfalls bei James Joyce und erstmals bei Arthur Schnitzler: Die Welt (hier die Grossstadt Paris) wird zur „Epiphanie“, zur Offenbarung.

„Denn das ist das Schreckliche, dass ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.“

Aus: „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (43).

Rilkes Kindheit als Widerspiegelung des Grossstadt-Lebens. Die Kindheit Rilkes widerspiegelt sich in den Kinderjahren der fingierten Figur des Malte Laurids Brigge. Dennoch bleibt die Beschreibung der eigenen Kindheit seltsam vage und verschlüsselt. Muss das Grossstadt-Leben anfangs des letzten Jahrhunderts als „verdorben“, „angstvoll“ und „elendlich“ bezeichnet werden, erscheint die Beschreibung der eigenen Kindheit Rilkes als eine letzte Trutzburg, in die er sich auch als Erwachsener in höchster Not flüchtet, und die er aufsucht, um der grossen Depression zu entfliehen. Es bleibt hier allerdings anzumerken, dass offenbleiben muss, inwieweit Rilkes eigene Kindheit in jener des Malte Laurids Brigge wiedergefunden werden darf. Eine Parallelisierung ist jedoch naheliegend und entspricht einer tiefgründigen Textanalyse. Nur schon die Beschreibung der Mutter Maltes und vor allem der Grossmutter (98ff.) bestätigen diese Annahme. Dazu kommt, dass sich einige Passagen aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge fast wörtlich in den Briefen an seine Frau Clara Rilke-Westhoff vorformuliert wiederfinden.

Die hässliche und entsetzliche Seite der Grossstadt hatte Rilkes Grunderfahrungen des modernen Lebens entblösst. Bereits im ersten Teil des Prosawerks konfrontiert Rilke eigene Pariser Eindrücke mit denen aus seiner Kindheit. Der Kontrast der Grossstadt, mit den Themenschwerpunkten Tod, Krankheit, Angst, Verzweiflung, Armut und Elend, mit den Erinnerungen an eine Kindheit, die zwar auch kein üppiges Paradies war, jedoch immerhin eine heile Welt, lässt viel Autobiographisches der Persönlichkeit Rilkes durchscheinen.

Die Grossstadt Paris des Fin de siècle: Der Fortschritt der Technisierung wurde mit Anonymität gleichgesetzt. (Foto: Kurt Schnidrig)

Der Malte – ein Alter Ego. Die Grossstadt, ausgefüllt mit Gerüchen und Lärm, beschleunigt den Prozess zunehmender Entindividualisierung. Die einzelnen Menschen werden – nach Rilke – noch erfasst als „Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespien hat“ (Malte, 37). Das „Ich“ ist der Grossstadt schutzlos ausgeliefert und steht einer anonymisierten Masse gegenüber. Malte Laurids Brigge, ein Alter Ego des Dichters Rilke, übernimmt die Rolle des Erzählers und diagnostiziert das Symptom eines Krankheitsbildes. Es ist dies eine doppelte Paranoia, die Angst vor der Zukunft einerseits und die Angst vor Entmenschlichung und zunehmender Entindividualisierung andererseits. Als Einzelne stehen wir einer anonymisierten Masse gegenüber. Dies wohl ist der „Rilke-Code“, den die Grossstadt Paris schonungslos enthüllt.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig