Was macht das digitale Lesen mit uns?

Statt des Lesens auf digitalen Geräten empfiehlt die neueste Forschung das analoge und literarische Lesen, insbesondere das Lesen von Büchern. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Lesen gehört zu unseren Grundkompetenzen. Es wird heutzutage keineswegs weniger gelesen, es wird aber anders gelesen als früher. Aufgrund der Zunahme der digitalen Medien werden riesige Mengen an Informationen an uns Leser*innen herangetragen. Diese digitalen Lesestoffe gilt es zu selektieren, zu vertiefen und auf ihre Verwendbarkeit hin zu überprüfen. Was aber macht das digitale Lesen mit uns? Für die Forschung steht fest, dass es einen grossen Unterschied macht, ob wir digital auf unseren smarten Geräten lesen oder ob wir analog in Büchern lesen.

Grosse Unterschiede zwischen analogem, literarischem Lesen (auf Papier) und digitalem Lesen (auf digitalen Geräten) sind besonders bei Texten feststellbar, die der Informationsvermittlung dienen, bei der sogenannten Fachliteratur also. Aus analogen Medien, insbesondere aus Büchern, ist es viel einfacher möglich, Informationen zu entnehmen und im Gedächtnis zu speichern. Beim Lesen von Büchern spielt die zusätzliche Stimulation durch den Tast- und Geruchsinn eine wichtige Rolle. Zudem erinnern wir uns besser an das, was wir in einem gedruckten Buch gelesen haben, als an das, was wir digital gelesen haben.

Aus Büchern entnehmen wir leichter Informationen und wir erinnern uns auch besser an das Gelesene. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Die Hirnforschung plädiert für das analoge Lesen auf Papier. Beim Lesen von Büchern kommt der haptischen und visuellen Wahrnehmung eine besonders wichtige Funktion zu. Unser Hirn ist nämlich dann besonders wachsam, wenn es um den Fortschritt während des Lesens geht: Jedes Mal, wenn wir eine Seite in einem analogen Buch umblättern, signalisieren wir unserem Hirn, dass es vorwärts geht. Ab der Mitte des Buches nehmen der Seh- und der Tastsinn bewusst oder unbewusst wahr, wie die rechte Seite des Buches mit den Blättern, die es noch abzuarbeiten gilt, kontinuierlich abnimmt. Für unser Hirn ist dies ein Erfolgserlebnis.

Eine Bibliothek für Kinder. Die bekannte Hirnforscherin Maryanne Wolf schlägt aufgrund der neusten Forschung vor, schon sehr früh für die eigenen Kinder eine Bibliothek anzulegen. Besonders Kinder seien sehr empfänglich für gedruckte Bücher, weil nur gedruckte (analoge, literarische) Bücher sogenannt haptische und olfaktorische Erfahrungen vermitteln. Dabei ist unter einer haptischen Erfahrung eine Wahrnehmung zu verstehen, die durch das Anfassen und Berühren zustande kommt. Bei der olfaktorischen Erfahrung wird ein Buch auch über seinen Duft wahrgenommen. Dies sind Erfahrungen, die heutzutage oftmals gänzlich in Vergessenheit geraten sind. Trotzdem sind es wichtige Erfahrungen, weil diese sich während der menschlichen Evolutionsgeschichte herausgebildet haben. Beim digitalen Lesen bleiben diese Erfahrungen gänzlich auf der Strecke.

Digitale Medien sind fragwürdige Hoffnungsträger. Laut der letzten PISA-Studie sollen Schweizer Schüler*innen nicht nur schlechter lesen als noch vor einigen Jahren, sie lesen in der Freizeit auch weniger Bücher. Im Gegenzug begegnen Kinder und Jugendliche auf digitalen Geräten Tag für Tag unterschiedlichsten Text- und Erzählformen. Wie geht das zusammen? Mit dem Einsatz von digitalen Medien hatten sich viele Erziehende erhofft, dass sich die schlechte Lesekompetenz heutiger Kinder und Jugendlicher verbessern liesse. Leider ist das Gegenteil eingetreten. Zwar können heute Kinder schon sehr früh, bereits bei Schuleintritt, auf dem Smartphone spielen oder auch Videos auf ihrem Tablet konsumieren. Die moderne Forschung kann diesen Fähigkeiten jedoch nicht viel Gutes abgewinnen. Ganz im Gegenteil: Das Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Aufmerksamkeits-Quellen sei den neuronalen Verknüpfungen im kindlichen Gehirn gar nicht zuträglich, wird von den Fachleuten moniert. Warum? Weil das kindliche Hirn für das Herausfiltern des Wichtigen und Wesentlichen noch keinen Mechanismus entwickelt hat. Es ist aus diesem Grund einem Kind in der Regel nicht möglich, eine vertiefende Verarbeitung der digitalen Inhalte vorzunehmen. Dies vor allem wegen der sprunghaften und allzu kurzen Aufmerksamkeit und auch aufgrund der vielen digitalen Reize.

Ein falsches Signal gesetzt? Mitte Mai dieses Jahres wurde der Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis an eine „Graphic Novel“ verliehen, die sich dem digitalen Lesen verschrieben hat. Es handelt sich um die Graphic Novel „Die Farbe der Dinge“. Die Jury lobt, dass der Autor Martin Panchaud „frech und frisch die Bild- und Textlesegewohnheiten des Publikums durcheinanderwirbelt“. Weiter hebt die Jury das „medientypische Erzähltempo“ hervor. Das Ganze mutet wie ein Videospiel an, aufgenommen aus der Perspektive einer Drohne. Die Jury schwärmt: „Die unverwechselbare Coming-of-Age-Geschichte jongliert geschickt mit popkulturellen Elementen, überspitzt mediale Gewaltszenarien oder Sexfantasien und erweitert die jugendmediale Erzähltradition um eine völlig neue Spielart.“ Vollzieht hier die Jury einen Kniefall vor den fälschlicherweise als Heilsbringer angepriesenen digitalen Medien? Der Preis wurde verliehen vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM, dem Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband SBVV sowie den Solothurner Literaturtagen. Die moderne Leseforschung schlägt hingegen ganz andere Töne an und propagiert das analoge, literarische und herkömmliche Lesen.

Ein Plädoyer für das analoge Lesen. Die Leseforschung empfiehlt das analoge, literarische Lesen, insbesondere das Lesen von gedruckten Büchern. Untersuchungen von Motorik, Tastsinn, Augenbewegungen und weiteren für gutes Lesen entscheidenden Faktoren haben ergeben, dass wir Texte auf Papier besser verarbeiten und in Erinnerung behalten. Die Forscherinnen und Forscher befürchten aufgrund der Digitalisierung insbesondere den Verlust der Fähigkeit, intensiv lesen zu können. Literaturpädagogische Projekte empfehlen deshalb weiterhin das analoge und literarische Lesen auf Papier, vor allem das Lesen von gedruckten Büchern mit herkömmlicher Erzähltradition. Seitens der Hirnbiologie fehlen zurzeit noch gesicherte Erkenntnisse, was genau das digitale Lesen mit unserem Hirn macht. Lesepädagoginnen und -pädagogen empfehlen deshalb zum jetzigen Zeitpunkt das Buch zum Anfassen und darin blättern.

Wie werden Kinder und Jugendliche 2030 lesen? Welche Auswirkungen haben die digitalen Entwicklungen auf die Kinder- und Jugendliteratur? Die Jahrestagung des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM stellt sich diesen brandaktuellen Themen mit Referaten aus Forschung und Praxis im kommenden September. Bleibt literarisches Lesen (analoges Lesen) auch künftig eine Grundlage, um in die Welt hineinzuwachsen? Welche Voraussetzungen braucht es dafür? Und wie gehen Bibliotheken mit den digitalen und analogen Herausforderungen in der Leseförderung um? Das literarische Lesen, insbesondere das Lesen von Büchern, muss für Fachleute der Königsweg bleiben.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zur Streitfrage „Digitales Lesen oder Literarisches Lesen?“ (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Petra Imsand / Daniel Theler)

Text. Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig