25. Literaturfestival: Glückssträhnen und Sorgenfalten

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war eine Konstante: Dana Grigorcea transportiert den Dracula-Mythos in die Gegenwart. (Foto: Kurt Schnidrig)

Was die Werkschau der Literat*innen am diesjährigen Literaturfestival in Leukerbad offenbarte: Wir stehen am Anfang einer neuen Zeit. Die digitale Revolution, die Energiekrise, der Klimakollaps, die Migration, die Überalterung und der Kampf marginalisierter Gruppen um soziale Anerkennung eröffnet der engagierten Autorenschaft politische und gesellschaftliche Perspektiven. Die Hinwendung zu einer neuen Zeit bedingt aber auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Was war gut, was schlecht? „In der Erinnerung wird die gute alte Zeit idealisiert“, sagte Dana Grigorcea in Leukerbad. Die rumänisch-schweizerische Erfolgsautorin greift in „Die nicht sterben“ aus der Vergangenheit den Dracula-Mythos auf und verknüpft ihn gekonnt mit einem düsteren Gesellschaftsbild der Gegenwart. Eine Konstante in den vielseitigen Darbietungen des diesjährigen Festivals war wohl auch deshalb die erzählerische Aufarbeitung der Vergangenheit.

Die Wiener Autorin Eva Menasse formulierte neckisch: „Früher war Literatur eine Bergbesteigung, heute ist es ein Runterrutschen.“ (Foto: Kurt Schnidrig)

Die Wiener Autorin Eva Menasse formulierte in Anlehnung an Heinrich Böll: „Früher war Literatur eine Bergbesteigung, heute ist es ein Runterrutschen“. Sie sprach damit das Leseverhalten heutiger Konsumenten an, die beim Lesen möglichst ohne Umwege und Einleitung unterhalten werden möchten. Wie das geht, demonstrierte sie mit kurzen Geschichten, sogenannten „Polizeimeldungen aus der Tierwelt“, die sie in ihrem Buch „Tiere für Fortgeschrittene“ zu Parabeln aufs Menschsein ausbaute.

Sharon Dodua Otoo spannt in ihrem Werk den Bogen von der europäischen Kolonialvergangenheit bis in die Gegenwart. (Foto: Kurt Schnidrig)

Die britisch-deutsche Autorin Sharon Dodua Otoo zieht in ihrem Roman „Adas Raum“ eine Verbindungslinie von der europäischen Kolonialvergangenheit über die NS-Zeit bis in die Gegenwart.

Der Leuker Rolf Hermann, als einziger Oberwalliser mit seinem Erzählband „Flüchtiges Zuhause“ in Leukerbad, gestand vor Publikum: „Je älter ich werde, umso wehmütiger werde ich.“ Damit sprach er vielen Zuhörerinnen und Zuhörern aus dem Herzen. Rolf Hermann schwelgte mit seinen Erzählungen in Erinnerungen an die Vergangenheit.

Rolf Hermann: „Je älter ich werde, umso wehmütiger werde ich“. (Foto: Kurt Schnidrig)

Rolf Hermann sprach mit seinen Geschichten aus Grossmutters Zeiten vielen Zuhörerinnen und Zuhörern aus dem Herzen. Zusammen mit der Leuker-Berliner Schriftstellerin Christine Pfammatter hatte er mit Schülerinnen und Schülern von Leuk und Leukerbad einen Schulhausroman geschrieben und am Festival präsentiert. Die Festival-Leitung favorisiert das gedruckte Buch. „Das Digitale und Multimediale ist eine Illusion“, bringt Hans Ruprecht seitens der Organisatoren auf den Punkt.

Lukas Bärfuss, der angesagte und preisgekrönte Schweizer Dramatiker und Essayist, gibt in seinem Essayband „Die Krone der Schöpfung“ den engagierten und kritischen Kommentator unserer jüngsten Vergangenheit. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Er hat zahlreiche Preise erhalten, darunter den Georg-Büchner-Preis, den bedeutendsten deutschen Literaturpreis. Lukas Bärfuss ist ein Schriftsteller, der auch gesellschaftlich und politisch mit seiner Meinung nicht hinter den Berg hält. Ich sprach mit ihm über seinen neuen Essay-Band „Die Krone der Schöpfung“. Darin äussert er sich zu drängenden Fragen der Zeit.

Mit Lukas Bärfuss führte ich ein äusserst spannendes Gespräch über drängende Fragen der Zeit. (Foto: Kurt Schnidrig)

Die Bestseller-Autorin Zadie Smith demnächst in Leukerbad? Ob es denn noch die eine oder andere Autorin gebe, die er liebend gerne nach Leukerbad holen würde, wollte ich von Festival-Organisator Hans Ruprecht wissen. „Zadie Smith, die britische Erfolgsautorin!“, kam Hans Ruprecht ins Schwärmen. Es ist dies eine Schriftstellerin, die über die ganz grossen Themen der Menschheit schreibt, über Geschichte, Herkunft, Identität, Hautfarbe, Religion und soziales Ungleichgewicht. In den Werken von Zadie Smith führen nicht selten magische Zufälle zu einem glücklichen Ende. Magische Zufälle, die auch dem Literaturfestival zupasskämen. Magische Zufälle, die mithelfen könnten, die Erfolgsgeschichte des Literaturfestivals Leukerbad fortzuschreiben.

Hören Sie meinen Schlussbericht zum Festival und zu dessen wirtschaftlich-finanziellen Problemen. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Petra Wysseier)

Text, Fotos und Radiosendungen: Kurt Schnidrig. Auszüge aus diesem Beitrag sind bereits erschienen im „Walliser Bote“ vom 28.06.2021 und im Online-Portal von pomona.media vom 27.06.2021.