Auf der Spur des Heiligen Grals in Paris

Welches Geheimnis birgt die gläserne Pyramide vor dem Louvre in Paris? Hat die Literatur eine falsche Spur gelegt? (Foto: Schnidrig)

Schon lange hatte ich mir vorgenommen, einer Spur zu folgen, die zu einem der grössten Geheimnisse der Menschheit führen soll, zum „Heiligen Gral“. Die Legende um den Heiligen Gral taucht bereits im 12. Jahrhundert in vielgestaltiger Form in der mittelalterlichen Artus-Sage auf. Verschiedene Versionen der Legende berichten davon, dass „der Gral“ ein wundertätiges Gefäss sei, das beim heiligen Abendmahl am Gründonnerstag vor dem Osterfest auf dem Tisch gestanden haben soll, an dem sich Jesus und seine Jünger versammelt haben. Die sogenannten Tempelritter sollen jahrhundertelang nach dem Heiligen Gral gesucht haben. Haben sie ihn gefunden? Wir wissen es nicht. Im Laufe der Jahrhunderte vermischten sich Anliegen des Christentums sowie Versatzstücke der christlichen Liturgie (im Motiv des Kelchs) und des Reliquienkultes (im Motiv der Heiligen Lanze) mit der Legende vom Heiligen Gral.

Das Buch „Der Heilige Gral und seine Erben“ enthüllte 1982 eine echte Sensation. Die Autoren Richard Leigh, Michael Baigent und Henry Lincoln legten in „Holy Blood, Holy Grail“ Quellen offen, die das gesamte patriarchialische Gehabe der katholischen Kirche entlarven sollten. Die Gralsforscher kamen zum Schluss, in seinem Werk „Das Abendmahl“ zeige Leonardo da Vinci die Wahrheit: Der Heilige Gral sei Maria Magdalena! Zur Erklärung: Auf dem Bild sitze zur rechten Seite nicht, wie von der Kirchen- und Kunstgeschichte verbreitet, der bartlose Jünger Johannes, sondern Maria Magdalena. Zwischen Jesus und Maria Magdalena werde auf dem Bild ein mit der Spitze nach unten zeigendes Dreieck angedeutet. Dies sei sowohl das Symbol für den Mutterschoss als auch für das göttlich Weibliche. Die Körperhaltung der beiden entspreche ebenfalls der V-Form. Und ausserdem fehle der Abendmahls-Kelch auf dem Bild, weil Maria Magdalena ja selbst der Heilige Gral sei. Eine Verschiebung von Maria Magdalena von der linken auf die rechte Seite von Jesu Christi vollende das Werk.

Die Gralsexperten kommen zum Schluss: Jesus Christus war verheiratet mit Maria Magdalena. Was aber, wenn am Ursprung der katholischen Kirche eine Frau steht? Welche Konsequenzen hätte dieses Wissen für die patriarchalisch ausgerichtete Männergesellschaft der Kirche gehabt? Maria Magdalena als der „Heilige Gral“ hätte das gesamte Fundament der katholischen Kirche und seine zölibatäre Männergesellschaft erschüttert. Hat die katholische Kirche deshalb Maria Magdalena zur Hure gemacht, um von der Tatsache abzulenken, dass Jesus Christus eine Geliebte und gar eine Ehegattin gehabt hatte?

Das apokryphe Philippusevangelium stützt die Thesen der Gralsforscher. In Kap. 58 sei der Spruch 55 zitiert: „Und die Gefährtin von Christus ist Maria Magdalena. Der Herr liebte sie mehr als alle anderen Jünger, und er küsste sie oftmals auf ihren Mund. Die übrigen Jünger (…) sagten zu ihm: Weshalb liebst du sie mehr als uns alle?“

Im Thriller „Sakrileg“, erschienen im Jahr 2004, stützt sich der Autor Dan Brown auf das pseudowissenschaftliche Buch „Der Heilige Gral und seine Erben“. „Sakrileg“ ist die Übersetzung des Welt-Bestsellers, der bereits 2003 unter dem Titel „The Da Vinci Code“ erschienen war. Das Buch wurde in 44 Sprachen übersetzt. Eine Verfilmung mit Tom Hanks und Audrey Tautou in den Hauptrollen kam unter dem Titel „The da Vinci Code -Sakrileg“ in die Kinos und ist seither in Endlos-Schlaufe auf fast allen TV-Kanälen zu sehen. Zum Inhalt: Robert Langdon, Symbolforscher und Professor der Harvard University, wird zu einem Mordfall im Louvre gerufen. Das Opfer hat sich ein Pentagramm auf den Bauch gemalt und eine rätselhafte Botschaft hinterlassen. Die Botschaft führt Langdon auf die Spur der sogenannten „Rosenlinie“, die ihn nach London und Schottland und schliesslich zurück nach Paris führt. Hier klärt sich die Frage, wo sich der Heilige Gral befindet. In Paris folgt Langdon einer Reihe von Markierungen quer durch die Stadt. Die Spur endet im Louvre, dessen Eingangsbereich eine gläserne Pyramide, die „Pyramide Inversée“, ist, eine Pyramide, die nach unten zeigt. Sie erinnert an den Kelch, der als Symbol des Göttlich-Weiblichen gilt. Das Geheimnis ruht in der kleinen Pyramide an deren Ende, „umgeben von der Kunst grosser Meister unter dem Sternenhimmel“: Maria Magdalena, der Heilige Gral.

Sind in der „Pyramide Inversée“ tatsächlich die sterblichen Überreste von Maria Magdalena, dem „Heiligen Gral“, verborgen? (Foto: Kurt Schnidrig)

Dan Browns Gralslegende – eine falsche Fährte? In seinem grossartig recherchierten Thriller „Sakrileg“ lüftet Dan Brown das Geheimnis um den Heiligen Gral. Der Heilige Gral wird von Brown als der weibliche Mutterschoss, im Speziellen als Mutterschoss von Maria Magdalena, interpretiert. Dan Brown geht noch weiter. Er ergänzt diese symbolische Deutung des Grals um materielle und „handfeste“ Aspekte. Die sterblichen Überreste Maria Magdalenas sowie die Dokumente ihrer Ehe und Kinder mit Jesus sollen von den Tempelrittern gefunden worden sein. Weil diese Funde die Existenz der Kirche bedrohen und das Jesusbild aus Sicht der Kirche „falsifizieren“ würde, soll die Legendenbildung rund um den Heiligen Gral entstanden sein. Handelt es sich hier um ein abgekartetes Spiel, das Dan Brown mit seinen Leser*innen treibt? Legt der Autor eine falsche Fährte, auf welche seine Fangemeinde auf der halben Welt hereingefallen ist? Die Antwort lautet: Ja, zumindest teilweise. Immer wieder streut Brown in seinem faktenorientierten Thriller „Sakrileg“ für hellhörige Leserinnen und Leser entsprechende Hinweise ein. So lenkt der Autor beispielsweise bewusst vom eigentlichen Täter ab und schiebt einen Bischof als Täter vor. Dieser Bischof trägt den Namen „Aringarosa“. Wer des Italienischen mächtig ist, der durchschaut Dan Browns Spiel mit Leichtigkeit: „Aringarosa“ ist zusammengesetzt aus „aringa“ und „ros(s)a“, was auf deutsch „Roter Hering“ bedeutet.

Als „Red Herring“ (Roter Hering) wird allgemein ein Ablenkungsmanöver bezeichnet. In der englischen Sprache findet sich ein Sprichwort: „to throw someone a red herring“, was wörtlich heisst: „jemandem einen roten Hering zuwerfen“. Sinngemäss liesse sich übersetzen: „jemanden auf eine falsche Fährte locken“. Ein „Red Herring“ ist eigentlich ein Salzhering, der sich durch das Räuchern rötlich verfärbt hat. Den Ausdruck „Red Herring“ verwenden die Jäger in ihrer Jägersprache, und zwar in der Bedeutung von „eine falsche Fährte“, „eine Finte“. Doch wie ist der Ausdruck etymologisch zu erklären? Nach einer weit verbreiteten Meinung verliert der Jagdhund die Witterung, oder er lässt sich auf eine falsche Fährte locken, wenn man ihn dem strengen Geruch von Pökelhering aussetzt. Früher, als die Jagd noch ein Kampf ums eigene Überleben war und es nicht genug Wild für all die vielen Jäger gab, sollen Wilderer die Spürhunde ihrer Konkurrenten mit einem Salzhering auf eine falsche Fährte gelockt haben. Einen solchen Fall schildert zum Beispiel der Schriftsteller William Cobbet (1763-1835). Er berichtet, wie er als junger Wilderer den Spürhund eines rivalisierenden Jägers auf eine falsche Fährte gelockt habe. Wissenschaftlich und vor allem auch waidmännisch, also aus Sicht der Jäger*innen, sind diese „Red-Herring-Geschichten“ allerdings nicht viel mehr als „Jägerlatein“, also Märchen. Trotzdem hat sich der Begriff „Red Herring“ in vielen Bereichen durchgesetzt.

Der „Red Herring“ in Politik und Literatur gilt als ein Propaganda-Instrument. Mit Hilfe eines „Red Herring“ soll der politische Gegner diskreditiert werden. Der „Red Herring“ ist in diesem Fall ein unsachliches Argument. Besonders in der Innenpolitik findet der „Red Herring“ eine Verwendung, um von kontroversen Entscheidungen abzulenken, indem man Unwichtiges in den Vordergrund rückt. Ein Beispiel sind aktuell die Ablenkungsmanöver der Impfgegner, die durch das Impfen ihre Freiheit und sogar die Demokratie bedroht sehen wollen. Dabei sind es eben diese Ungeimpften, welche die unsägliche Corona-Pandemie verlängern und die Geimpften in ihrer Freiheit, durch die Überbelegung der Spitäler und durch die vielen Beschränkungen und Einschränkungen, bedrohen. Die absurden Geschichten der Impfgegner sind illustrative Beispiele für „Red Herrings“. Mit ihren haarsträubenden Argumentationen und mit ihren Verschwörungs-Theorien, mit ihren „Red Herrings“, versuchen sie das Volk auf falsche Fährten zu locken.

Der „Red Herring“ im Krimi und im Thriller gehört hingegen zu den literarischen Kunstmitteln. Wie langweilig wäre ein Thriller ohne falsche Fährten, also ohne „Red Herrings“! Wenn man als Leserin oder als Leser gleich zu Beginn eines Krimis bereits den wahren Täter kennen würde! So gesehen, ist der „Red Herring“ ein unabdingbares Kunstmittel. Der Thriller-Autor lockt seine Leser*innen bewusst auf falsche Fährten, indem er „Red Herrings“ in den Handlungsaufbau einfügt. Die „Red Herrings“ sind verantwortlich für den Spannungsaufbau in der Kriminalliteratur. Vermischt man Fakten, Fiktion und „Red Herrings“ geschickt miteinander, entsteht ein literarisches Kunstwerk. Dem Thriller-Autor Dan Brown ist es gelungen, mit „Sakrileg“ ein derart spannend-verwirrliches Werk zu erschaffen, das auch heute noch Tausende von begeisterten Leserinnen und Leser nach Paris lockt, um in der „Pyramide Inversée“ nach dem Heiligen Gral, nach dem vielleicht grössten Geheimnis der Menschheit, zu forschen und zu suchen.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum literarischen Kunstmittel „Red Herring“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Tiziana Imoberdorf / Christina Werlen)

Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig