Literatur-Boykott gegen Russland?

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Frauen kämpfen – oft auf sich allein gestellt – um ihre Freiheit und ums Überleben der Familie. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Die Literatinnen und Literaten aus der Ukraine bitten uns Schreibende hier im Westen um unsere Hilfe! Sie bitten darum, dass wir uns dem Totalboykott russischer Bücher anschliessen. Die wichtigsten Literaturinstitute unterstützen den Totalboykott, der vom Ukrainischen Buchinstitut, dem Lviv International BookForum, der PEN Ukraine und dem Book Arsenal in Kiew gefordert wird: Die Verbreitung von Büchern russischer Autor:innen und Verlage durch die Buchhandlungen in aller Welt sind zu stoppen, online wie offline; Keine Rechte mehr von russischen Verlagen sollen weiterhin erworben oder verkauft werden; Russland, seine Verlagshäuser, Kulturzentren und Autor:innen sind von der Teilnahme an allen internationalen Buchmessen und Literaturfestivals auszuschliessen; Stipendien für Übersetzungen zeitgenössischer russischer Autoren in andere Sprachen sind zu beenden.

„Der Feind heisst Putin, nicht Puschkin“. Mit diesem Slogan wehrt sich das PEN-Zentrum Deutschlands dagegen, dass die Literatur in den Totalboykott eingebunden wird, der gegen russische Kultur, gegen den russischen Sport und gegen russische Wirtschaft und Gesellschaft praktisch unisono befolgt wird. Die Schriftstellervereinigung PEN will Autoren und Autorinnen aus Russland nicht pauschal boykottieren. Sie begrüsst aber alle Massnahmen, die geeignet sind, die russische Kriegswirtschaft zu schwächen. Doch ein Schriftsteller-Boykott beträfe auch „die mutigen russischen Kolleginnen und Kollegen, die Putins Gewaltherrschaft widersprechen“, wird argumentiert. Bücher und Stücke russischer Autoren zu boykottieren, sei eine symbolische Ersatzhandlung, erklärt das PEN-Zentrum in Darmstadt. „Der Feind heisst Putin, nicht Puschkin“, sagt PEN-Präsident Deniz Yüzel. Mit der Weigerung, sich dem Totalboykott anzuschliessen, wie er zurzeit landauf landab in Sport, Kultur und Gesellschaft befolgt wird, steht das PEN-Zentrum Deutschland ziemlich alleine da. Wäre es nicht einfach nur solidarisch, sich auch im Bereich der Literatur dem Totalboykott anzuschliessen?

Dürfen wir „die grossen Russen“ boykottieren? Dürfen wir Alexander Puschkin, Leo Tolstoj, Fjodor Dostojewski oder Anton Tschechow, dazu aber vor allem auch die gegenwärtige russische Autorenschaft und ihre Werke solange boykottieren, bis der russischen Überfall auf die Ukraine geahndet und aufgearbeitet ist? Als Literaturwissenschaftler darf man sich den rund 400 russischen Wissenschaftern anschliessen, darunter 65 Mitgliedern der Russischen Akademie der Wissenschaften, die in einem offenen Brief festhalten:

Wir, russische Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten, protestieren nachdrücklich gegen die von den Streitkräften unseres Landes eingeleitete Militäraktion in der Ukraine. Dieser fatale Schritt führt zu enormen Verlusten an Menschenleben und untergräbt die Grundlagen des etablierten Systems der internationalen Sicherheit. Die Verantwortung für die Entfesselung eines neuen Krieges in Europa liegt allein bei Russland.

Offener Brief von 380 russischen Wissenschaftlern

Die Unterzeichnenden führen weiter aus, man respektiere die ukrainische Staatlichkeit, die sich auf funktionierende demokratische Institutionen stütze. Durch die Entfesselung des Krieges habe sich Russland selbst zur Internationalen Isolation, zur Position eines Pariastaates verurteilt, so die Unterzeichnenden. Der russische Friedensnobelpreisträger Dimitri Muratow warnt vor der Gefahr eines Atomkriegs nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Muratow führt die kremlkritische Zeitung „Nowaja Gaseta“. Er wurde 2021 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. „Die Zukunft unserer Kinder wurde hier kaputt gemacht“, sagt er.

Der Schulterschluss der westlichen Welt gegen den Ukraine-Krieg ist deshalb so wichtig, weil der Totalboykott derzeit das einzige Mittel zu sein scheint, um den Kriegswahnsinn zu stoppen. Die Ukraine kämpft buchstäblich um das Überleben, und es steht uns wohl noch eine dramatische Zeit bevor. Die EU steht in der Ukraine-Krise für einmal erstaunlich geschlossen hinter dem Totalboykott. Was aber auch gesagt werden muss: Um zum Frieden zu gelangen, braucht es den Dialog, auch die Wiederaufnahme des Dialogs mit Moskau. „Aber ich habe das Gefühl, das der Moment dafür noch nicht da ist“, gibt sich der italienische Ministerpräsident Mario Draghi desillusioniert, und da spricht er wohl aus, was viele von uns denken. Die „grossen Russen“ müssen zurzeit warten und hoffen auf bessere Zeiten, die einzig sie, die „grossen Russen“ wieder heraufbeschwören können. Dies gilt auch für die russische Literaturszene.

Text und Symbolbild: Kurt Schnidrig