Frühlingsgefühle 2022: Ein Gefühls-Chaos

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Gefühls-Chaos 2022: Die Frühlings-Literatur widerspiegelt die gegensätzlichen Stimmungen. (Foto: Kurt Schnidrig)

Wonnemonat Mai! Gestern, am 4. Mai, überraschte mich mitten in der Stadt Bern ein Hagel-Schauer, der die Strassen in Sekunden mit winterlichem Weiss bedeckte. Der Winter kämpft mit dem Frühling um die Vorherrschaft. Auch auf meinem Balkon (Bild), wo ich noch vor wenigen Stunden in der wärmenden Frühlingssonne sass und mir ausgewählte Frühlings-Literatur zu Gemüte führte. Der Frühling, Ausgabe 2022, ist ein ganz besonderer Frühling!

Frühlingsgefühle 2022 sollten nach den monatelangen Einschränkungen und Gefährdungen durch die Pandemie nun freiheitliche, losgelöste und beflügelnde Emotionen freisetzen. Doch leider sind auch belastende Emotionen mit dabei, ausgelöst durch das Kriegsgetümmel und die menschenverachtenden Drohungen eines angeschlagenen Kriegers aus dem Osten, dessen historischer Horizont sich immer noch aus längst überholten Schulbüchern nährt, die den Mief des letzten Jahrhunderts verströmen und bei den Weltkriegen steckengeblieben sind. Und nun braust der Frühling 2022 durch unsere Täler, begleitet vom Aufblühen der Natur und dem emotionalen Aufbruch der Menschen nach neuen Ufern. All dies sorgt für ein Gefühls-Chaos bei vielen von uns. Die Literatur des panischen Frühlings 2022 widerspiegelt dieses Gefühls-Chaos. Stellvertretend stelle ich dazu drei Bücher vor.

Das Aufblühen der Natur weckt die Sehnsucht nach einem Paradies ohne Kriegslärm und ohne Pandemie-Bedrohung: „Zum Paradies“ heisst der angesagte Bestseller aus den USA. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

„Zum Paradies“ – so heisst der Nummer-1-Bestseller aus den USA, erschienen nun auch in deutscher Sprache im Claassen-Verlag. Das Buch stammt von der internationalen Bestseller-Autorin Hanya Yanagihara, wir kennen sie bereits bestens seit ihrem Welterfolg „Ein wenig Leben“. Jetzt also „Zum Paradies“. Das aktuelle Buch, passend zum diesjährigen chaotischen Frühjahr, dreht sich um die Frage, was unser Leben nach all den Entbehrungen während der virenverseuchten Zeit nun wieder reich und erfüllend machen könnte. Dazu gehören an erster Stelle die Begegnungen mit lieben Menschen, Körperkontakt und Berührungen. Die Autorin erzählt drei stimmige Geschichten zu Themen wie Familie, Liebe, Verlust, Krankheit und Zukunfts-Utopie. In ihren Geschichten verarbeitet sie das Gefühls-Chaos, das unsere Frühlings-Gefühle zurzeit bestimmt. Kunstvoll fügt Hanya Yanagihara in ihren Geschichten die negativen Gefühle wie Krankheit und Verlust und die positiven Gefühle wie Liebe, Familie und Hoffnung wie Puzzle-Teile zusammen. Für nicht wenige grenzt trotzdem an ein Wunder, dass es dieser 800-seitige Wälzer aus den USA auf Platz eins der Frühjahrs-Literatur geschafft hat.

Manchmal reichen auch schon die kleinen und erhebenden Dinge des Alltags, um Frühlings-Gefühle zu erzeugen. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Die kleinen erfreulichen Dinge des Alltags reichen oftmals aus, um in uns Frühlingsgefühle zu wecken. Ein Kuss ist oftmals der Auslöser. Besonders bei all jenen, die in den vergangenen virenverseuchten Wochen und Monaten mit Küssen nicht eben verwöhnt worden sind. Ein gutes Beispiel dafür liefert die Protagonistin aus dem Roman „Die theoretische Unwahrscheinlichkeit der Liebe“ von Ali Hazelwood. Die Biologie-Doktorandin Oliva muss sich allerdings zuerst einmal gehörig überwinden, denn nach den langen Wochen der Abstinenz hat sie sich das Küssen abgewöhnt. Oliva hatte während der langen Monate der Pandemie in einem Labor gearbeitet. Bedingt durch die unzähligen Versuche, einen Impfstoff und Medikamente gegen die gesundheitlichen Bedrohungen herzustellen, ist sie zwangsläufig wissenschaftsgläubig geworden. Für Gefühle war da während langen Wochen der Krise kein Platz vorhanden. So muss sich Oliva jetzt überwinden, jetzt, das sich endlich wieder die Gelegenheit zu einem Kuss bietet. Das Küssen hat sich Oliva inzwischen schlicht und ergreifend abgewöhnt. Verständlich deshalb, dass ein Kuss sie nun in ein Gefühls-Chaos stürzt. Doch nun „muss“ Olivia ihre eigenen Gefühle einer wissenschaftlichen Analyse unterziehen.

Gegensätzliche Frühlingsgefühle 2022 offenbart besonders deutlich der Roman „Nachtbeeren“ von Elina Penner, erschienen im Aufbau-Verlag. Die Autorin erzählt die Geschichte der jungen Frau Nelli, die zusammen mit ihrer Familie aus Russland geflüchtet ist und nun nach Deutschland zieht. Als ihr Mann ihr eines Tages mitteilt, dass er sie für eine andere Frau verlassen möchte, da kann Nelli am nächsten Morgen nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob sie ihn nicht versehentlich umgebracht hat. Der Roman „Nachtbeeren“ thematisiert die Zerrissenheit und die Traumata, die insbesondere jene Menschen befallen, die aus Kriegsgebieten in unser Land kommen. Voller Tragik, aber auch immer mit einer Prise Komik, schreibt die Autorin Elina Penner über eine Frau, die, zerrissen zwischen Herkunft und Identität, Familie und Glauben, zusammenbricht, aber trotzdem immer wieder aufsteht.
Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Thema „Frühlingsliteratur 2022“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Daniel Theler)

Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig