Helden, erdichtet und erfunden

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Helden werden gemacht – auch dafür ist die Literatur zuständig. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Es gibt Menschen, die das Wort „Held“ gar nicht mögen. Denn für viele Menschen sind Helden vor allem Soldaten, die im Krieg gekämpft haben. Sind die Kämpfer der ukrainischen Armee die aktuellen Helden? Oder sind es die jungen russischen Kämpfer, die nicht wussten, wie ihnen geschah, als sie sich statt in einem Übungs-Manöver plötzlich in einem brutalen Angriffs-Krieg wiederfanden? Gemäss Lexikon ist ein Held, wer im Krieg sein Leben gelassen hat. Daneben gibt es auch noch die klassischen Helden. Helden aus der Sage. Helden wie Odysseus oder wie Wilhelm Tell. Klassische Helden besitzen eine Eigenschaft oder eine Qualität, die sie von gewöhnlichen Menschen unterscheidet, und die sie zu Helden macht. Odysseus gehörte zu den bekanntesten griechischen Heroen im Trojanischen Krieg. Odysseus‘ heldenhafte Taten werden von Homer in der „Ilias“ und seine zehnjährige Irrfahrt auf der Heimreise in der „Odyssee“ geschildert. Der grosse griechische Literat und Sagenerzähler Homer hat Odysseus zum Helden erhoben. Und Wilhelm Tell? Friedrich Schiller hatte versucht, die Gestalt des Wilhelm Tell in ein Helden-Epos zu kleiden.

Alles nur erdichtet und erfunden? Die Geschichte von Wilhelm Tell, die uns Friedrich Schiller in seinem Helden-Epos auftischt, ist erfunden, und den Tell hat es so wohl nie gegeben. Auch viele Taten, die dem Tell zugeschrieben werden, haben sich so wohl niemals ereignet. Der Apfelschuss ist einer Wandersage entnommen, deren sich auch andere Länder rühmen. Dass sich der Tell mit einem kühnen Sprung vor der Gefangennahme durch den Landvogt Gessler auf einen Felsen am Ufer des Vierwaldstättersees gerettet haben soll – auch das ist Dichtung. Und auch die Rache des Tell am Landvogt Gessler – der Tell soll den Landvogt Gessler in der Hohlen Gasse zu Küssnacht mit einem Pfeil von seiner Armbrust durchbohrt haben – das alles ist reine Fiktion. Somit versinkt auch die Gründung der Eidgenossenschaft im Nebel der Geschichte und der Helden-Mythos um Wilhelm Tell umranken unzählige Dichter und Schriftsteller bis heute immer wieder mit neuen Legenden.

Helden-Epen sind eine Einladung an Roman-Autoren. Das Helden-Epos, das sich um die Gestalt des Wilhelm Tell rankt, ist ein spannendes Feld, das es zu beackern und zu bearbeiten gilt. Aktuell bedient sich der Schweizer Roman-Autor Joachim Schmidt des Tell-Mythos. Schmidt ist vor 15 Jahren nach Island ausgewandert. Dort schreibt er eifrig nordische Sagen und Legenden auf. Um Mythen und Märchen geht es auch in seinem neuen Roman „Tell“. Darin befasst er sich mit dem Ursprung der Eidgenossenschaft, mit der Schweiz, die aus dem Aufstand gegen die Fremdherrschaft der verhassten Habsburger entstanden sein soll. Und er befasst sich auch mit der Schweiz, deren Gründungsgeschichte sich auf den sagenhaften Helden Wilhelm Tell stützt.

Wilhelm Tell im Roman von Joachim Schmidt ist ein schweigsamer Kerl. Einer, der es vorzieht, auf die Jagd zu gehen, anstatt auf dem Bauernhof zu ackern. Statt die Kühe zu melken, hantiert er viel lieber mit der Armbrust herum. Der Tell ist menschenscheu. Als Bub war er der Liebling des Dorfpfarrers, der ihn damals in sein Zimmer gelockt und sich regelmässig am Tellen-Bub vergangen hatte. Kommt hinzu, das sich Schmidts Tell-Figur schuldig fühlt am Tod seines Bruders. Der Tell heiratet die schwangere Frau seines Bruders. Doch dann überfallen die Habsburger Soldaten den Bauernhof des Tell. Der habsburgische Kriegs-Tross verwüstet Tells Bauernhof und verübt Gräueltaten. Die kriegstrunkenen Soldaten misshandeln die Mutter des Wilhelm Tell auf bestialische Weise, so, dass sie an ihren Verletzungen stirbt. Der Tell fühlt sich hilflos und gedemütigt. Als der Tell nach Altdorf heimkehrt, gerät alles ausser Kontrolle. Besoffene Soldaten machen sich über den Tell lustig, weil er nach Kuhmist stinkt. Es kommt, wie es kommen muss. Der Tell verweigert dem Gessler den Gruss. Zufällig reitet der verschmähte Landvogt gleich selbst herbei. Er möchte den Tell bestrafen. Doch – so steht es geschrieben – durchbohrt der Tell den Gessler mit einem Pfeil. Gesslers Soldaten knöpfen sich daraufhin den Tell vor und verletzen ihn. Doch dieser löst sich in Luft auf und wird alsdann zum Stoff für Mythen und Märchen.

Das Überraschende am neuen Tell-Roman ist, wie die Roman-Story erzählt wird. Weil niemand so genau weiss, was damals wirklich geschah, erzählt der Autor die Geschichte aus den Perspektiven von verschiedenen Personen, also multiperspektivisch. Die Story verdichtet sich derart zu einer Stimmen-Collage. 20 Protagonisten erzählen in 100 kurzen Sequenzen, was sie sehen und was sie fühlen: der Dorfpfarrer, die Bauern, die Ehefrau, der Sohn, die Tochter, die Mutter, die Soldaten, der Landvogt Gessler. Der Tell kommt erst ganz zum Schluss zu Worte. Erst, nachdem er den Gessler vom hohen Ross heruntergeschossen hat, erst, nachdem eine Bauernfrau dem Tell zu Hilfe eilt und einem Soldaten mit einem Schwert den Kopf abhaut. Erst dann erhalten wir als Leser einen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt des Wilhelm Tell. Schliesslich begleiten wir Leserinnen und Leser den Tell auf seinem Weg ins Nichts, dahin, wo die Sagen und Legenden zu Hause sind.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwälla zum neuen Tell-Roman. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Karin Imhof)

Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig