Maturanden- und Diplomanden-Literatur. Was müssen unsere Studienabgänger lesen?

Glückliche Gesichter und berechtigter Stolz an den Matura- und Diplomfeiern. (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Mitte Juni lacht das Glück den Tüchtigen. Die Abschlussfeiern unserer Schulen sorgen kurz vor den Sommerferien für Schlagzeilen. Eine solide Ausbildung ist eine Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Das Fach Deutsch und die deutsche Literatur stehen dabei an vorderster Stelle. Als Chefexperte für Deutsch werde ich immer wieder mal nach der Bedeutung der Literatur innerhalb des Fächerkanons einer Mittel- oder Hochschule gefragt.

Die Literatur bietet Muster an für eine echte Lebenshilfe. Aus der schöngeistigen Literatur, aus der Belletristik also, lassen sich mit Hilfe von gut ausgewählten Werken viele echte Lebenssituationen analysieren, planen und meistern. Die Literatur schärft sowohl das Analytische und Logische als auch die Fantasie, die Intuition und das Vorstellungsvermögen. Die Literatur liefert Anwendungs- und Betätigungsfelder für fast alle Lebenslagen. Und ganz wichtig: Die Literatur schult vor allem auch die psychologische und kommunikative Lebensführung.

Was alles sollte eine Maturandin oder ein Diplomand gelesen haben? Zur literarischen Allgemeinbildung gehören aktuelle Bücher genauso wie Bücher aus den verschiedenen literarischen Epochen, von der Klassik bis in die heutige Zeit. In diesem Jahr aufgefallen ist mir vor allem topaktuelle Literatur, wie etwa das Buch der deutschen Politikerin und Schriftstellerin Juli Zeh mit dem Titel „Über Menschen“. Es ist dies ein Roman, der die Corona-Zeit abbildet, dargestellt vor allem durch die Flucht aus der Stadt aufs Land. Die Sehnsucht vieler Menschen nach Freiheit kann von vielen Leserinnen und Lesern aus tiefstem Herzen nachempfunden werden. Nach den langen Wochen des Lockdowns und des Eingeschlossenseins innerhalb der eigenen vier Wände, meldet sich bei vielen die Sehnsucht nach einem Tapetenwechsel und nach mehr Raum für die persönliche Weiterentwicklung.

Was kann die Literaturgeschichte mit ihrem Epochendenken beitragen? Die literarischen Epochen helfen auch heute noch beim Einordnen und beim Bündeln der zahlreichen literarischen Aspekte und Strömungen. Gemäss Goethe und Schiller gehört primär zu den Aufgaben der Literatur, einen menschlichen Idealzustand zu beschreiben. In der literarischen Klassik ist bereits erlebbar, was heute noch Lebensziel und Idealbild von uns allen sein soll. Die darauffolgende Epoche der Romantik lehrt uns, den Blick von allem, was uns umgibt, weg und auf unser Innerstes zu lenken. Die Überwindung von alltäglichen Begrenzungen und das Verlangen nach unbeschränkter Freiheit – dies sind zwei romantische Forderungen, denen auch heute noch in verschiedensten Lebenslagen eine wichtige Bedeutung zukommt.

Kritisch Stellung beziehen gegenüber Themen wie Volk, Heimat, Gesellschaft und Staat – wie dies möglich werden kann, zeigen uns die literarischen Epochen des Vormärz und des Biedermeier. Unser Weltbild verändert sich je nach Lebensphase, in der wir uns aktuell befinden. Einmal dominieren die Schattenseiten des Lebens wie in der Epoche des Naturalismus, ein andermal überfällt uns eine resignative Stimmung wie im Realismus. Nicht immer ist das Leben ein Zuckerschlecken, immer wieder mal macht sich eine Weltuntergangs-Stimmung breit wie im Zeitalter des Expressionismus.

Auch unsere gelebte Vergangenheit harrt einer Bewältigung. Die Nachkriegs-Literatur – mit Protagonisten wie Borchert, Böll, Brecht und Tucholsky – hilft mit bei der Bewältigung von Traumata in einer Welt voller Kriege, Dramen und Tragödien. Und nicht zu vergessen: Immer wieder verhilft uns die Literatur zu tragfähigen Lebens-Konzepten, die tröstlich und aufbauend sicherer Hort und Leuchtturm gleichermassen sein können.

Hören Sie den Podcast aus der „Literaturwälla“ zum Thema Maturanden- und Diplomanden-Literatur. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Rafael Heinen).
Die Epochen der deutschen Literaturgeschichte als Prüfungsstoff für Maturandinnen und Diplomanden? (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Rafael Heinen)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig