Lassen sich grosse Gefühle archivieren? Ein persönliches Gespräch mit Peter Stamm

Er schreibt mitten aus dem Leben und er spricht seinen Leser*innen aus dem Herzen: Der Schriftsteller Peter Stamm. (Copyright Bild: Kurt Schnidrig)

Wir haben uns zum Gespräch getroffen. Dabei haben wir auch viel Gemeinsames herausgefunden. Vieles, was wir besprochen haben, ist bei mir auf fruchtbaren Boden gefallen und hat dort Wurzeln geschlagen. Einer Sonnenblume gleich, blüht erst jetzt auf, was meine Erinnerung gespeichert hat. Peter Stamm ist 1963 im thurgauischen Weinfelden geboren. Früh schon muss er gefühlt und gespürt haben, dass mehrere Möglichkeiten, vielleicht auch verschiedene Persönlichkeiten, in seinem Inneren schlummern. Von Anglistik über Wirtschaftsinformatik bis zu Psychologie und Psychopathologie reicht sein Bildungshorizont. Wie nur lassen sich all diese Lebens- und Berufsentwürfe umsetzen und anwenden? Vielleicht am ehesten als Medienschaffender. Peter Stamm wurde Journalist und verfasste Hörspiele.

In den Olymp der deutschsprachigen Literatur gelangt man nicht ohne Umwege. Am Anfang seiner Schriftsteller-Karriere stand 1998 der Debütroman „Agnes“. Bislang ist der Erstling in 15 Sprachen übersetzt worden. In rascher Folge veröffentlicht Peter Stamm seither seine Bücher. Darin stellt er immer wieder das Leben in Frage, reichert herausragende Momente mit Fiktion an und plant neue Lebensentwürfe. Und ja, die Frauen spielen darin eine tragende Rolle.

„Sie besucht mich oft, meist kommt sie in der Nacht. Dann steht sie neben meinem Bett, schaut auf mich herunter und sagt, alt bist du geworden. Sie meint es nicht böse, ihre Stimme klingt heiter, liebevoll.“

Erste Sätze in Peter Stamms Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“.

Sie kommen fast jede Nacht, die Frauen, manchmal auch erst im Morgengrauen. Nie sind sie sehr pünktlich, aber das macht ihm nichts aus, dem Ich-Erzähler in Peter Stamms Roman. „Ich mache nichts anderes mehr als warten, und je später sie kommt, desto länger kann ich mich auf sie freuen“, sagt er. Wirklichkeit und Fiktion lassen sich in Stamms Romanen kaum noch unterscheiden. Mit leisen Worten und eindringlichen Metaphern erzählt er in seinem Roman „Nacht ist der Tag“ von einer Frau, der das ganze Leben genommen wird, die aber doch am Leben bleiben muss – eine Tragödie, die in einen Neuanfang mündet. Peter Stamm folgt einer poetologischen Maxime: Er möchte lange Erklärungen aus dem Erzählten fernhalten. Bilder und Dialoge lässt er für sich sprechen. Wahrnehmungen und Sinneseindrücke vermitteln seinen Geschichten eine Lebendigkeit, die uns in ihren Bann zieht.

Erinnerungen an wichtige Stationen im Leben, an unvergessliche Ereignisse und Erlebnisse, begleiten uns durchs ganze Leben. Grosse Gefühle prägen unser Leben. Die erste Liebe gehört dazu. Lässt sie sich aber archivieren? Lassen sich wunderbare Gefühle haltbar machen, so dass wir ein ganzes Leben lang davon zehren können? Darüber schreibt Peter Stamm in seinem aktuellen Roman „Das Archiv der Gefühle“. Der Ich-Erzähler ist eng befreundet mit der Sängerin Fabienne. Fabienne heisst eigentlich Franziska. Es ist nun schon vierzig Jahre her, dass er ihr seine Liebe gestanden hat. Immer mehr hat er sich daraufhin zurückgezogen und hat nur noch in seiner Fantasie gelebt. Das Leben ist an ihm vorbeigezogen, er hat es verpasst und versäumt. Doch nun taucht Franziska plötzlich wieder auf. Gefährdet die Rückkehr der ersten Liebe seine Existenz? Oder nimmt er nun die zweite Chance wahr?

Peter Stamm liest aus seinem neuen Roman „Das Archiv der Gefühle“. (Copyright Bild: Kurt Schnidrig)

Lässt sich ein Leben archivieren? Auf diese meine Frage antwortet Peter Stamm mit dem Hinweis auf die vielen Fotos, die wir heute allüberall und bei jeder Gelegenheit schiessen und in irgendwelchen Ordnern auf unseren Computern abspeichern. „Kaum jemand schaut die Fotos je wieder an“, meint Peter Stamm, und so sei es auch im wahren Leben. „Wirklich archivieren lässt sich ein Leben nicht“, fasst er zusammen.

Männer im Alter von 40 oder 50 Jahren sind oftmals die Protagonisten in Peter Stamms Romanen. „Ich schreibe immer von Bereichen des Lebens, die ich kenne“, erklärt er mir. Sind es Sonderlinge und Eigenbrötler, die seine Bücher bevölkern? Nein, es seien ganz durchschnittliche Menschen, wehrt er ab. „Vielleicht sind die Charaktere der Personen in meinen Geschichten etwas zugespitzt, sie haben natürlich auch noch ein anderes Leben, dieses ist im Buch aber nicht enthalten.“

Das komplexe und komplizierte Leben von heute ordnen und in den Griff bekommen? Nein, das sei nicht unbedingt ein Anliegen des Schriftstellers, sagt Peter Stamm. „Eigentlich scheitert mein Archivar immer beim Archivieren.“ Die Fiktion komme bei ihm in der Regel schlecht weg, sagt Peter Stamm. „Unser Leben besteht nur aus Erinnerungen, und diese aus Geschichten. Daraus entspringt die Fiktion.“

Die Unberechenbarkeit der Welt komme ihm zu Hilfe, sagt Peter Stamm, er arbeite damit. Seine Bücher plane er nicht im Voraus.

Ich bin wie ein Wanderer, der durch die Landschaft geht, ohne Kompass und Karte. Geplante Reisen sind langweilig. Manchmal gestaltet sich eine ungeplante Reise als schwierig, dann muss man umkehren. Aber es ist diese Unberechenbarkeit der Welt, welche eine Wanderung erst spannend werden lässt.

Peter Stamm im Gespräch mit Kurt Schnidrig

Tragen die Frauen eine Mitschuld an der Unberechenbarkeit der (Männer-) Welt? „Frauen bringen die Männer aus dem Konzept und die Männer die Frauen“, sagt Peter Stamm. Und er bringt auf den Punkt: „Einer der stärksten Antriebe für eine Geschichte ist der Geschlechtstrieb, vor allem das Liebesverhältnis zwischen Menschen, zwischen Frau – Mann, Mann – Mann, Frau – Frau“, sagt Peter Stamm. In einer saturierten Welt wie der unsrigen sei die Liebe der stärkste Antrieb. In unserer modernen Welt hätten wir zwar schon viele Probleme gelöst. Unglück aber habe meistens mit der Liebe zu tun.

Die erste Liebe und der erste Kuss spielen eine massgebliche Rolle in Peter Stamms Büchern. „Es gibt immer nur ein erstes Mal“, sagt Peter Stamm, „und dieses erste Mal muss man bewahren und behüten.“ Meistens sei die erste Liebe „nicht die Gelungenste, sondern die Misslungenste“, eine Liebe, die gar nie richtig zustande gekommen sei. Aber alle ersten Male seien etwas Besonderes, hält Peter Stamm fest.

Meinen Figuren geht es am Schluss meiner Bücher immer besser als am Anfang. Ich könnte nicht eine Geschichte schreiben, die schlecht endet.

Peter Stamm im Gespräch mit Kurt Schnidrig

Die Sehnsucht und die Melancholie führen bei Peter Stamms Protagonisten nicht selten zu einem „verfehlten Leben“. Doch zum Schluss bietet sich ihnen jeweils eine echte Chance. „Das heisst nicht, dass es ein Happy End braucht“, sagt Peter Stamm, „wenn jemand sich seiner Situation bewusst wird und herausfindet, was nicht gut gewesen war, dann ist das doch schon ein Fortschritt“. Aber ein Happy End in Hollywoodscher Manier? Das wäre ihm zu einfach, sagt Peter Stamm.

Hören Sie einen Mitschnitt aus der Live-Sendung Literaturwelle. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Yannick Zenhäusern)
Hören Sie das Gespräch mit Peter Stamm, ungeschnitten und im Originalton. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig