Märchenklassiker provokativ neu erzählt

„Rotkäppchen rettet den Wolf“ – ein Kinderbuch räumt mit den Vorurteilen über den bösen Wolf auf. Das Bild zeigt einen Wolf im Tierpark Dälhölzli in Bern. (Bild: Kurt Schnidrig)

Im Wald läuft Waldmusik. Vögel zwitschern. Grillen zirpen. Insekten surren und summen. Mittendrin Rotkäppchen. Rotkäppchen möchte ihr Lieblingstier sehen. Ihr Lieblingstier? Das ist der Wolf! „Der Wolf ist doch nicht böse“, lacht Rotkäppchen, „auf seinem Speiseplan stehen keine Kinder. Auch keine Grossmütter. Der Wolf hat bloss einen schlechten Ruf.“ Rotkäppchen ist frech und selbstbewusst. Rotkäppchen weiss, dass der Wolf scheu ist und sich nicht als kranke Grossmutter verkleidet. Rotkäppchens Problem ist da eher der Bürgermeister. Der wirft achtlos Müll in den Wald, möchte am liebsten den ganzen Wald platt machen und ein Einkaufszentrum bauen. Das will Rotkäppchen unbedingt verhindern. Zusammen mit seiner Grossmutter startet Rotkäppchen eine Protestbewegung.

Kinderbuchautorinnen sorgen sich. Mit der Ausrottung von Wildtieren vermitteln wir unseren Kindern mehr als nur ein schlechtes Beispiel. Der böse Wolf ist sprichwörtlich. Kein Wunder. Alle kennen wir das Märchen von Rotkäppchen, das im Wald dem bösen Wolf begegnet. Der böse Wolf hat herausgefunden, wo die Grossmutter wohnt. Noch bevor Rotkäppchen bei seiner Grossmutter ankommt, hat der Wolf diese schon gefressen und sich sogar in ihr Bett gelegt. So eine Frechheit! Ja und jetzt unsere Schäfer! Die würden den Wolf am liebsten gleich abknallen, und zwar lieber heute schon als erst morgen. Sicher mit einigem Recht. Wer die verbissenen Schafe auf unseren Alpen sieht, die Wolfs-Risse, der kann den Hass auf den Wolf zumindest teilweise verstehen. Aber! Die Frage sei gestellt: Wie verhält sich diese Haltung mit der Erziehung unserer Kinder? Alles einfach abknallen, was uns nicht passt? Da müssen wir auch Verständnis aufbringen für die Pädagogen und Kindererzieherinnen, die gegen das Abknallen und gegen den medial orchestrierten Hass auf die Wildtiere, insbesondere auf den Wolf, antreten.

Petra Piuk und Gemma Palacio: Rotkäppchen rettet den Wolf. Leykam-Verlag. 64 Seiten. CHF 17.90

Ein Nicht-Märchen. Die Autorinnen versuchen Verständnis zu wecken für die Wildtiere, die sich bei uns je länger je heimischer fühlen. Sie erzählen Wolfs-Geschichten, die wahrheitsgetreu das Leben in einer Wolfs-Familie schildern. Der Wolf in der Erzählung heisst Lupo. Er hat in Italien das Licht de Welt erblickt. Im Alter von zwei Jahren hat er das eigene Wolfsrudel verlassen. Er hat sich auf eine lange Wanderung begeben. Mehr als 750 Kilometer hat er zurückgelegt, bis er endlich in unseren Wäldern aufgetaucht ist. Hier bei uns hat er seine Traum-Wölfin angetroffen. Sie heisst Luna. Es war Liebe auf den ersten Blick. Zusammen haben sie ein Liebes-Duett angestimmt.

Eine Wolfsliebe dauert ein Leben lang. Und welche Freude, als die Jungen auf die Welt kamen! Die Kinderbuch-Autorinnen haben den Wolfs-Welpen auch Namen gegeben. Es sind dies Namen, die hungrig machen. Die Welpen heissen Marinara, Margherita, Hawaii, Quattro Formaggi und Funghi. Die jungen Wölfe heissen wie eine Pizza! Warum? Vielleicht deshalb, um bei den Kindern die Liebe zum Wolf zu wecken. Die Wolfsliebe. So ganz nach dem Motto: Ich hab dich zum Fressen gern. Ich hab dich so gern wie eine Pizza.

Die Botschaft des Buches ist provokativ. Natürlich hat der Wolf einen schlechten Ruf. Die Märchen, die frühere Generationen rund um den Meister Isegrim gesponnen haben, tragen daran eine Mitschuld. Was jedoch auch gesagt werden muss: Für den Menschen stellt der Wolf bestimmt nicht die grösste Gefahr dar. Und worin man den beiden Kinderbuch-Autorinnen ebenfalls recht geben muss: Der Umgang, den wir mit unseren Wildtieren an den Tag legen, ist nicht eben vorbildlich. Trotzdem ist es zuweilen nötig, ein Tier zur Strecke zu bringen, weil es zu viel Schaden anrichtet. Darüber müssten wir mit unseren Kindern vermehrt reden. Wir müssten ihnen erklären, weshalb der Wildhüter einen Wolf erlegen muss, der zu viele Schafrisse zu verantworten hat. Zu einer derartigen Diskussion kann ein Nicht-Märchen, so wie jenes der Autorinnen Piuk und Palacio, zumindest ein Anstoss sein.

„Rotkäppchen rettet den Wolf“ räumt mit alten Märchen-Vorurteilen auf. Der Erzählstil ist originell und herausfordernd. Rotkäppchen gebärdet sich darin als eine Spielverderberin und verändert die Erzählung aktiv. Und mehr noch. Rotkäppchen verändert auch die Pläne der Politikerinnen und Politiker. Rotkäppchen legt einen gelebten Wald- und Artenschutz an den Tag. Das kindliche Publikum ist gefordert, eigene Naturbeobachtungen anzustellen. So ganz nach dem Motto: Engagieren kann sich jede, jeder und jedes.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwälla zum Thema „Märchenklassiker provokativ neu erzählt“, Teil 1. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Daniel Theler / Yannick Zenhäusern)

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwälla zum Thema „Märchenklassiker provokativ neu erzählt“, Teil 2. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Daniel Theler / Yannick Zenhäusern)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig