Heimat im Kopf und im Herzen: Vor 60 Jahren entstand die Internationale Walser Vereinigung

Am 14. August findet in der Burgspitzkapelle ob Ried-Brig die Walsermesse statt, umrahmt vom Jodlerclub Zer Tafernu. (Bild: Kurt Schnidrig)

Die Forschungen zum Walsertum beschäftigen die Wissenschaftler seit dem Mittelalter, sie sind reine Kopfsache. Der Glaube an die gemeinsamen Wurzeln, an eine gemeinsame Heimat und an die Verbundenheit der Walser in aller Welt ist dagegen reine Herzenssache.

Warum sind unsere Vorfahren aus dem Tal des Rottens ausgewandert? Wahrlich eine Unmenge von Behauptungen und Thesen sind im Verlauf der Zeit aufgestellt, lauthals verkündet, widerlegt und aufs Neue belegt worden. Mit der sogenannten „Walser Frage“ beschäftigten sich viele ernsthafte Forscher, aber auch haufenweise Dilettanten. War auch schon im 11./12. Jahrhundert, als die Walser-Wanderungen einsetzten, das Klima schuld? Tatsache ist, dass vom 12. Jahrhundert an langanhaltende Trockenheit und Dürre das Wallis heimsuchten. Felder, Wiesen, Weiden und Alpen drohten zu verganden. Die Leute darbten und mussten das letzte Stück Vieh abschlachten, um nicht zu verhungern. Doch das allein vermag den Auszug der Walser hinaus in alle Welt wohl nicht vollständig zu erklären. Hinzu kamen Naturkatastrophen wie Erdbeben, Lawinen und Rüfen, die im 12./13. Jahrhundert in vielen Dörfern die Bewohner zur Abwanderung zwangen. Zu all dieser Not gesellte sich um diese Zeit die Pest, der „Schwarze Tod“, eine schreckliche Beulenpest, der ganze Familien, Dörfer und Talschaften zum Opfer fielen. Erst später fanden die Forscher heraus, dass wohl auch Feudalherren die Walser in unwegsame und entlegene Gebiete lockten, weil sie sich auf das Handwerk des Rodens und des Brückenbauens verstanden wie kaum ein anderes Völklein in Europa. Als Entgelt für die schwere kolonisatorische Arbeit „in Höchinen und Wildinen“ erhielten sie gewisse Rechte und Freiheiten zugesprochen, das berühmte Walser Recht und die Walser Freiheit.

Die Forschung vermochte die Geschehnisse, die sich vor fast 800 Jahren abgespielt haben, zumindest teilweise zu enthüllen. Dass die Walser aus dem Wallis stammen müssen, und dass ihre Bräuche, ihre Kultur und Sprache heute noch grosse Ähnlichkeit mit den Kulturgütern des deutschsprachigen Oberwallis aufweisen, wagt heute kaum noch jemand ernsthaft zu bezweifeln. Jahrzehntelang vollzog sich die Forschungsarbeit im Stillen. Der grosse Durchbruch in der „Walser Frage“ begann mit dem ersten „Walser Treffen“, das Baronin Tita von Oetinger 1962 in Saas-Fee organisierte und zu dem sich Walser aus allen möglichen Kolonien einfanden.

Baronin Tita von Oetinger ist die Titelgeschichte im soeben erschienenen Heft „Wir Walser“ (Nr.2/2022) gewidmet. Herstammend aus Darmstadt im Bundesland Hessen, besuchte sie im Jahr 1937 erstmals das Wallis. Beeindruckt von Land und Leuten am Oberlauf des Rottens, begab sie sich später auf die Spuren der Walser. Im Sommer 1962 hatte Tita von Oetinger Freunde und Bekannte sowie Vertreter aus den Walser-Siedlungen, dazu auch Walser-Forscher zu sich in ihr Haus in Saas-Fee eingeladen. „Wie ich meine Walser fand und lieben lernte“ – dies der Titel eines Referats, das die Baronin an besagter Tagung gehalten haben soll. Im Anschluss an die Tagung sollen die rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ins Valsesia gefahren sein. In Alagna und Rimella wartete ein enger Freundeskreis auf die Baronin. Sie gründeten eine „Internationale Walservereinigung“ und ernannten Baronin Tita von Oetinger zur ersten Präsidentin. Es lässt sich somit sagen, dass der Anstoss zur Renaissance des Walsertums aus deutschen Landen kam. Weltweit begannen sich sodann Forscherinnen und Forscher jeglicher Provenienz für das „Rätsel Walser“ zu interessieren.

Die „Vereinigung für Walsertum“ förderte die Kontakte zwischen den Walser Siedlungen und der Urheimat Wallis. Universitätsprofessor Dr. Louis Carlen als Präsident der Vereinigung und Professor Ernst Schmidt als erster Redaktor der Zeitschrift „Wir Walser“ trugen Wesentliches dazu bei, dass sich die Walser auf ihre Herkunft, auf ihre Traditionen und auf ihre Kultur zu besinnen begannen. Es bleibt jedoch das Verdienst der „Walsermutter“ Tita von Oetinger, die Sache der Walser einer breiten Weltöffentlichkeit zugetragen zu haben.

Die Entstehungsgeschichte des Walserbewusstseins ist untrennbar mit Tita von Oetinger verbunden. Ihr Kind ist das grosse internationale Walsertreffen.

Aus: „Eine Frau aus Darmstadt wird Walsermutter“. In: „Wir Walser“, Nr. 2/2022, S. 11)

Das internationale Walsertreffen, das Tita von Oetinger begründete, ist bis heute „das Aushängeschild und über alle geografischen und sprachlichen Grenzen hinweg der Ankerpunkt des Walsertums“, wie ebenda nachzulesen ist. Das 21. Internationale Walsertreffen findet vom 30. September bis 2. Oktober 2022 in Ornavasso statt. Als Präsident der Internationalen Vereinigung für Walsertum IVfW zeichnet Paul Schnidrig verantwortlich. Im Vorwort des aktuellen Heftes „Wir Walser“ schreibt Präsident Paul Schnidrig: „Es ist unsere Verpflichtung, Oetingers Erbe weiterzutragen. Das internationale Walsertreffen ist weit mehr als reine Folklore, die Verbundenheit zu einer jahrhundertealten Kultur, ein gemeinsamer Ursprung, die ehemals gemeinsame Sprache und ähnliche Bräuche und Sitten bilden noch heute eine kraftvolle Basis des Walsertums.“

Text und Bild: Kurt Schnidrig