Kim de l’Horizon – ein queeres Debüt als Highlight des Literaturjahres?

Mit seinem „Blutbuch“ räumte Kim de l’Horizon nicht nur den Deutschen Buchpreis ab, er steht auch auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. (Copyright Foto: Kurt Schnidrig)

Kim de l’Horizon war die Sensation in Frankfurt am Main. Mit seinem „Blutbuch“ gewann er als Schweizer Autor den Deutschen Buchpreis! Sensationell dabei war auch, dass er so angesagte deutsche Autorinnen und Autoren wie Eckhart Nickel, Jan Faktor, Daniela Dröscher, Kristine Bilkau oder Fatma Aydemir überflügelte.

„Ich denke, die Jury hat den Text auch ausgewählt, um ein Zeichen zu setzen.“

Kim de l’Horizon in seiner Dankesrede zum Deutschen Buchpreis

Auf den Punkt gebracht: Die Erzählfigur im Roman „Blutbuch“ identifiziert sich als „nicht binäre Person“, also weder als Frau noch als Mann. Allein diese Feststellung schon reicht nicht wenigen Kritiker*innen, um das Buch in die Schmuddel-Ecke des Internets zu verbannen. In Frankfurt am Main habe ich den Auftritt des Autors Kim de l’Horizon ganz anders erlebt, Kim hat mich fasziniert. Persönlich finde ich, dass da auch ganz viele unappetitliche Reaktionen seitens der Literaturkritik mit dabei sind. Es sind Meinungen, literaturkritische Einschätzungen und persönliche Vorlieben zu lesen und zu hören, aber auch Ressentiments und persönliche Abneigung. Eine Versachlichung tut not.

Das „Blutbuch“ ist ein hoch interessantes Debüt. Autor Kim de l’Horizon hat zwölf Jahre seines Lebens ins Schreiben dieses Buches investiert. Er hat viel Persönliches, auch viel Erlittenes und Elebtes, da mit hinein verpackt. Schon klar, dies alles lässt diesen Roman noch nicht zu einem Bestseller-Roman aufsteigen. Und es sei zugestanden: Es scheint so, als gelte für die moderne Literaturkritik bereits die blosse Repräsentanz von marginalisierten Gruppen, von Aussenseiter*innen also, als Qualitäts-Merkmal.

„Ich sehe, wie du glücklich bist über deine kurzen Haare, und ich denke, wie viel billiger ein genderfluider Körper ist als ein dementer Körper und dass wir für dieses System beide als krank gelten und trotzdem nicht tragbar sind für die Krankenkasse.“

Zitat aus „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon

Doch hat „Blutbuch“ weit mehr zu bieten als Voyeurismus gegenüber einer immer noch von vielen tabuisierten Lebensweise. In „Blutbuch“ glänzt der Autor zwar mit literarischen Kunstmitteln und Handfertigkeiten. Nicht zu übersehen sind aber auch schiefe Metaphern, teils allzu pathetisch abgehandelte Ansichten und drastische Sex-Szenen, die stilistisch und sprachlich wenig hergeben. Dies alles ist jedoch scharf zu trennen von der Autoren-Figur.

Kim de l’Horizon liest lieber aus seinem Buch, anstatt sich den voyeuristischen Fragen zu stellen, so bei seinem Auftritt bei „Open Books“ in Frankfurt. (Copyright Foto: Kurt Schnidrig)

Keine Autobiographie habe er geschrieben, sagt Kim de l’Horizon. Als Autor lässt er Figuren und Gedanken harmonisch ineinander fliessen, die eigene gelebte Realität und die erträumte Fiktion lassen sich aus Leser*innen-Perspektive nicht auseinanderhalten. Kims Schreiben ist keineswegs phänomenal oder gar überirdisch, wie dies schwärmerisch von seiner Fan-Gemeinde zu vernehmen ist. Das Handwerk des Schreibens hat er am Literaturinstitut Biel gelernt. Der Autor beherrscht vor allem die literarische Technik, er weiss, wie aktuelle und teils auch noch tabuisierte Themen in Buchform zu verpacken sind.

„Ich bin da, das ist meine Welt und das ist meine Sicht auf die Welt. Sprache ist für mich als schreibenden Menschen so etwas wie Hexerei.“

Kim de l’Horizon

Genderfluidität ist zwar ein heiss debattiertes Thema. Aber es ist lange nicht das einzige Thema, das der Autor in seinem „Blutbuch“ abhandelt. Seiner Leserschaft tischt er beispielsweise dozierend eine stimmige Kulturgeschichte der Blutbuche auf. Im dritten Kapitel verbindet der Autor dann die Kulturgeschichte der Blutbuche mit dem Phänomen des Stammbaums, über den jede Familie, jede*r von uns, verfügt.

Zur Stärkung des Buchhandels taugt das „Blutbuch“ allemal. Bestimmt spielt da auch ein gerüttelt Mass an Voyeurismus mit, der als willkommener Hintergrund zur Verleihung eines Buchpreises fungiert. Der Buch-Branche geht es zwar einigermassen gut. Trotzdem hat sie mit einem allgegenwärtigen Problem zu kämpfen: Die Verteilung der verkauften Bücher aus dem Lot geraten. Will heissen: Ein paar Megasellern stehen eine Flut von schlecht verkauften Titeln gegenüber. So gesehen, ist ein Buchpreis auch ein machtvolles Instrument zur Stärkung des Buchhandels.

Und jetzt den „Schweizer Buchpreis“? Gewinnt Kim de l’Horizon am 20. November an der „Buch Basel“ nun auch den Schweizer Buchpreis? Die Chancen für das „Blutbuch“ sind intakt. Gesellschaftspolitisch kommt dieses Buch bestimmt zum richtigen Zeitpunkt auf den Markt. Allerdings bedient der Buchhandel damit auch eine Kultur-Elite, die ihre pädagogischen Ansprüche durchzusetzen versucht. Ob sich die Jury des Schweizer Buchpreises derart abgehobenen Intentionen zu widersetzen imstande ist, wird sich weisen.

Als rro-Literaturexperte bin ich für Sie bei den Präsentationen der Nominierten für den Schweizer Buchpreis in Basel mit dabei. Kritiken, Meinungen und Reaktionen dazu hören und lesen Sie aus erster Hand an dieser Stelle.

Hören Sie den Podcast aus der Live-Sendung zum „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Joel Bieler)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig