Keine leichte Aufgabe für die Jury. Fünf Frauen entschieden über die Verleihung des Schweizer Buchpreises 2022. Es sind dies Tanja Bhend, Buchhändlerin in Winterthur; Sieglinde Geisel, Freie Kritikerin und Schreibcoach; Annette König, SRF-Literaturredaktion und Buchbloggerin; Martina Läubli, Kulturjournalistin der NZZ am Sonntag und Yeboaa Ofosu, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin. Für den Schweizer Buchpreis 2022 wurden von insgesamt 58 Verlagen insgesamt 88 Titel auf die Longlist gesetzt. Davon erstellte die Jury eine Shortlist mit den fünf Nominierten für den Schweizer Buchpreis.
Das Publikums Voting kürte Thomas Hürlimann zum Publikums-Liebling. Anlässlich der Präsentation der Nominierten im Volkshaus Basel überzeugte Thomas Hürlimann mit einer geradezu blendenden Vorstellung, nicht nur seines Buches „Der Rote Diamant“, sondern auch aufgrund seines immensen Wissens als gestandener und erfahrener Literat. Thomas Hürlimann lieferte ein grandioses Erzähl-Feuerwerk ab. „Pass auf, dann überlebst du“, gibt die Mutter ihrem elfjährigen Arthur Goldau mit auf den Weg, als sie ihn im Kloster-Internat hoch in den Schweizer Bergen abliefert. Hier wird Arthur zum Zögling und lernt, was schon Generationen vor ihm lernten. Doch das riesige Kloster-Gemäuer, in dem die Zeit nicht zu vergehen scheint, birgt ein Geheimnis. Während Arthur mit seinen Freunden dem Geheimnis nachspürt, zieht die 1968er-Revolution die Zöglinge in ihren Bann, ein Dorfmädchen führt Arthur in die Liebe ein und durch die altehrwürdigen Flure des Klosters weht Bob Dylans „The Times They Are a-Changin“. Ein wunderbar geniales und auch berührendes Buch! Fragen, die sich stellen: Kann man überhaupt Dichter sein und katholisch? Hürlimann legt einen Kloster-Krimi vor im Stile eines E.T.A. Hoffmann, der mit seinen „Elixieren des Teufels“ auch Hürlimanns Schreiben beeinflusst hat.
In einem nonbinären Körper geboren, fühlt sich die Erzählfigur von „Blutbuch“ in der Stadt Zürich wohl, ist sie doch den engen Strukturen der Herkunft entkommen. Als dann jedoch die Grossmutter an Demenz erkrankt, muss sich das Ich mit der Vergangenheit befassen, und es hat sich mit den bruchstückhaften Erinnerungen an die eigene Kindheit auseinanderzusetzen. Der Text bricht mit Erzählkonventionen und berichtet auf eigenwillige Art und Weise eine Familiengeschichte. Das Buch erscheint punktgenau vor dem Hintergrund der aktuellen Gender- und Klassendebatten. Das Buch berührt und wühlt auf. Nicht mithalten kann da die zwar ebenfalls eigenwillige, zuweilen aber auch saloppe Präsentation des Buches. Kim de l’Horizon wartet mit kaum zusammenhängenden Sätzen auf und mit kommunikativen Kompetenzen, die das Publikum ratlos zurücklassen.
„Dürrst“ – so heisst der zweite Roman von Simon Froehling. Der Roman ist im bilgerverlag erschienen. Ricco Bilger ist Mitbegründer des Literaturfestivals Leukerbad. Im Zürcher Kreis 5 betreibt er eine Buchhandlung, und er führt daselbst auch einen Verlag. Im Buch „Dürrst“ öffnet Simon Froehling den Blick in die Lebensrealität eines homosexuellen Mannes, der zwischen Dating- und Künstler-Abgründen seinen Weg sucht. Immer wieder sieht er sich konfrontiert mit einer bipolaren Erkrankung. Seine Schilderungen sind schonungslos. Der Protagonist hat mit psychischen Dämonen zu kämpfen. Im „reichen, kalten und grauen Zürich“ sucht er das Queere als wärmenden Pol.
„Pommfritz aus der Hölle“, das Buch von Lioba Happel, stützt sich auf 23 Briefe, die Fritz aus dem Gefängnis heraus schreibt. Fritz schreibt über seine Kindheit. Er schreibt über den „Vatter“, den er als Kind nur einmal zu Gesicht bekommen hat. Alle kommen sie in seinen Briefen vor: Die Sozialarbeiterin vom Amt, vor allem aber die rettende Begegnung mit der Literatur Rimbauds. Und er schreibt über seine Mutter, die ständig Poulet ass, ihn ans Tischbein band und schlug – und die er schliesslich umgebracht hat. Lioba Happel will als Autorin alle Grenzen ausloten, die dem Schreiben gesetzt sind. Kann die Literatur auch einen derartigen „Affront“ verkraften?, fragt die Autorin ihr Publikum. Sie hat eine Botschaft, untermauert mit viel sozialem Engagement.
„Steine zählen“ ist ein nordisches Drama. Da oben im hohen Norden, in Südfinnland, hat Märta ihren Mann Matti verlassen. Nun ist er allein in seiner Bauernkate, allein mit Hund, Gewehr und Schnapsflasche. Es kommt, wie es (in nordischen Krimis) kommen muss: Eines Tages findet der lokale Polizeibeamte den verlassenen Matti vor dem Haus in einer Blutlache liegend. „Steine zählen“ ist allerdings mehr als ein Buch, das dem Genre der nordischen Krimis zuzurechnen ist. Es ist dies auch ein tiefgründiger Roman um Lebenslügen und Verstrickungen. Er habe die Geschichte „bekommen“, erzählt Thomas Roethlisberger seinem Basler Publikum. Nicht aus seinen Träumen beziehe er die Geschichten, erläutert er, vielmehr sei es das eigene Erleben, das ihm die Figuren und deren Geschichten zuspiele. Und warum in Finnland? Schon als Kind hätten ihn Märchen, so wie jenes von Nils Holgersson, in ihren Bann gezogen.
Der Schweizer Buchpreis ist mit Fr. 42’000.- dotiert. Das Preisgeld für den Gewinner beträgt Fr. 30’000.-, die Nominierten erhalten je Fr. 3000.- Die fünf Jurorinnen prüften die eingesandten Bücher und erstellen gemäss eigenen Kriterien anfangs Jahr die Longlist, im September dann die Shortlist. Als Veranstalter des Schweizer Buchpreises zeichnet der Schweizerische Buchhändler- und Verlegerverband SBVV und der Verein „Literatur Basel“. Die genauen Bestimmungen sind in einem Reglement ausformuliert.
Text, Bilder und Radiosendungen: Kurt Schnidrig