Der Japaner in mir

Japanischer Herbst bei uns im engen Rhonetal – das ist ein Headliner für ein aktuelles literarisches Phänomen bei uns. Tatsächlich haben verschiedene Oberwalliser Literaten und Künstler das Land der aufgehenden Sonne in ihr Herz geschlossen. Da war zuerst Nicolas Eyer, der mit „Kamikochi“, einer wunderschönen Geschichte aus Japan, den Zauber aus dem Land der aufgehenden Sonne in diesem Herbst zu uns brachte. Dann bereiste auch der Fotojournalist Patrick Rohr das Land und berichtet in seinem Foto-Buch über ein Japan, „abseits von Kirschblüten und Kimono“.

Tokio kenne ich ein wenig von einem viertägigen Kurz-Trip mit dem Boeing-Dreamliner, vor allem aber aus den Büchern des Schriftstellers Haruki Murakami.  Der Dreamliner-Kurztrip hat mich im Stadtteil Akihabara eintauchen lassen in die literarisch-exotische Welt der Mangas und der Cosplays (Bild). Eine Seelenverwandtschaft allerdings verbindet mich mit dem Schriftsteller Haruki Murakami. Er hat sich vom Barbesitzer in Tokio zum erfolgreichen Autor hochgeschrieben. Ermöglicht haben dies seine zwei Leidenschaften, die auch die meinen sind.

Zwei Leidenschaften bestimmen das Leben von uns beiden: Schreiben und Laufen. Für Haruki Murakami – wie auch für mich – bedeutet das Laufen ein zweites Leben, indem man sich Energie, Inspiration und vor allem die Zähigkeit zum Schreiben und Lesen holt. Der Einfall und Entschluss, Romanautor zu werden, kam Haruki Murakami beim Laufen. Seither gleicht er das viele Sitzen am Schreibtisch mit dem Laufen aus. Dabei hat er sich in den letzten dreissig Jahren zu einem erstaunlichen Athleten entwickelt. Zu den jährlichen Marathons sind auch Ultraläufe hinzugekommen.

Wie man Laufen und Schreiben kombinieren kann, das erklärt Haruki Murakami in seinem Welt-Bestseller „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ (Verlag DuMont Köln, 165 Seiten). Darin beschreibt Murakami den geregelten Tagesablauf eines disziplinierten Autors und Marathonläufers. Sowohl das Schreiben als auch das Laufen bedingen sich gegenseitig, das eine geht also gar nicht ohne das andere. Murakami betrachtet die literarische Phantasie als eine Art Gift, das durch eine starke Laufbewegung wieder ausgetrieben werden muss. Das Ringen des Autors mit dunklen Mächten wird durch das Laufen ausbalanciert.

Diese Philosophie des Schreibens und Laufens sehe ich in der typisch japanischen Tradition begründet. Um das zu erklären, muss ich etwas ausholen und in die japanische Kulturgeschichte eintauchen. Ab dem 4. Jahrhundert wurde das Land immer wieder von Bürgerkriegen verwüstet. In diesen kriegerischen Epochen stieg der Schwertadel, die Bushi (später als Samurai bezeichnet), zur wichtigsten Schicht auf. Neben der Kriegskunst bildete sich auch der Zen heraus, eine neue Form des Buddhismus, die den Kriegern entsprach. Der Einfluss des Zen spiegelt sich in der Dichtung, Malerei und Musik wieder. Kriegskunst und Zen setzen sowohl das Physische (das Laufen) als auch das Kognitive und Emotionale (das Schreiben und Dichten) in Abhängigkeit voneinander.

In der Edo-Zeit, im 17. Jahrhundert also, kam das Land dann einigermassen zur Ruhe. Die Samurai wurden zu einer Beamtenschicht, sie bewahrten aber ihre Kriegertugenden in den Kampfkünsten (bujutsu). Das Physisch-Körperliche (das Laufen) und das Kognitiv-Emotionale (das Schreiben und Dichten) gingen so untrennbar ineinander über. Wettkampfmässiges Laufen und literarisches Schreiben bilden seither eine harmonische Einheit, eine perfekte Work-Life-Balance.

Der Schriftsteller Haruki Murakami lebt die Harmonie von literarischem Schreiben und wettkampfmässigem Laufen in Perfektion. Wie sich Laufen und Schreiben kombinieren lassen, das zeigt er in seinen Büchern. Die Philosophie des Schreibens und Laufens aus dem Land der aufgehenden Sonne hat auch mir klar und deutlich aufgezeigt: Es gibt einen Japaner in mir.

Text und Foto. Kurt Schnidrig