Leben in zwei Welten

Wir leben in einem Tal, wo die Felswände so nahe zusammenrücken, dass uns die Sehnsucht nach Ferne und Freiheit oftmals hinaus treibt in die weite Welt. Einige von uns kehren der engen Bergwelt aus beruflichen Gründen den Rücken, und sie tun dies für längere Zeit. Dies oftmals zum Nachteil der Volkswirtschaft, die in diesem Fall von „Brain Drain“ spricht. So wird wörtlich der Gehirn-Abfluss im Sinne von Talent-Schwund bezeichnet. In der Literatur hat die britische Schriftstellerin Jojo Moyes diese Thematik aufgegriffen und mit dem Roman „Mein Herz in zwei Welten“ einen Weltbestseller gelandet.

Ein Leben in zwei Welten führen, das muss auch, wer zum Beispiel aus einer beschaulichen englischen Kleinstadt ins glamouröse New York zieht. Die Autorin Jojo Moyes erzählt die Geschichte von Lou, die einen tollen Job im mondänen New York angeboten bekommt. Das Problem dabei ist, dass Lou ganz allein in den Big Apple ziehen muss. Der Wechsel von der idyllischen englischen Kleinstadt in die New Yorker Metropole ist für Lou ein veritabler Kulturschock. Zurücklassen muss sie ihre liebenswert chaotische Familie mit ihrem Mann Sam, der sie immer wieder aufgefangen hat, wenn es ihr nicht so gut ging. Jetzt ist Lou ganz allein auf sich gestellt, und dazu sieht sie sich auch noch mit einem beruflichen Neuanfang konfrontiert.

Führe ein unerschrockenes Leben! Fordere Dich heraus! Dies ist die Botschaft, die Jojo Moyes in ihren Roman hineinverpackt. Lou versucht trotz aller Widerwärtigkeiten sich in der Metropole New York durchzusetzen. Sie versucht, den Big Apple für sich zu erobern. Doch in der Grossstadt muss sie erfahren, dass die Gefahr doch recht gross ist, sich selbst und ihren Kollegenkreis zu verlieren. Die kleinbürgerliche und kleinkarrierte Stadt in England im Tausch gegen das mondäne New York – das sind zwei ganz verschiedene Welten. Ist es möglich, in zwei so unterschiedlichen Welten zu Hause zu sein? „Mein Herz in zwei Welten“ von Jojo Moyes gibt eine Antwort darauf.

Mein Herz in zwei Welten ist der letzte Roman einer Trilogie. Das erste Buch hiess „Ein ganzes halbes Jahr“, es folgte „Ein ganz neues Leben“ und jetzt also der Abschluss mit „Mein Herz in zwei Welten“. Die Handlung ist auch im dritten Band äusserst vielseitig. Immer noch warten die Protagonisten Lou und Sam mit Überraschungen auf. Es bereitet Spass, die junge Frau Lou bei ihrem spannenden Leben in New York zu begleiten. Ein ständiges Auf und Ab charakterisiert ihr Leben. Schöne Erfahrungen lösen sich ab mit schrecklichen. Jojo Moyes Schreibstil ermöglicht es dem Leser und der Leserin, sich mit viel Empathie in die Protagonistin Lou einzufühlen.

Jojo Moyes, die Autorin, wuchs als Einzel- und Scheidungskind in einer rauen Gegend von London auf. Auch sie erlebte einen Kulturschock, als sie in die riesige Weltstadt Hongkong wechselte, um von dort als Kolumnistin und Journalistin für die Sunday Morning Post zu schreiben. Ihren grössten Erfolg erzielte Moyes mit ihrem Roman „Ein ganzes halbes Jahr“. Die Liebesgeschichte einer jungen Frau, die einen reichen Tetraplegiker pflegt, ging um die Welt und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Mit 1,2 Millionen verkauften Exemplaren wurde das Buch in Deutschland zu einem der erfolgreichsten Romane der vergangenen Jahre. Das Hollywoodfilmstudio MGM erwarb sich die Filmrechte. Zum gleichnamigen Film schrieb Moyes auch das Drehbuch.

Was mir kürzlich bei einer Stippvisite in New York bewusst wurde: Auch wir leben hier bei uns in einer idyllischen Provinz, in kleinbürgerlichen Verhältnissen. Wenn wir unser enges Tal verlassen und uns aufmachen, um die grosse weite Welt zu entdecken, dann fühlen wir ganz ähnlich wie die Figur Lou aus dem Roman von Jojo Moyes. Zu dieser Erkenntnis war ich anlässlich eines New-York-Abenteuers gelangt (Bild).

Als Chick-lit werden Jojo Moyes Werke zuweilen bezeichnet. „Chick-lit“ bedeutet sinngemäss etwa „anspruchslose Frauenliteratur“. „Chick-lit“ ist ein eher abwertender Begriff. Diese Kritik kann ich nicht nachvollziehen. Als gestandendem Mann stellten sich mir in New York ähnliche Widerstände in den Weg, wie sie Jojo Moyes in ihrem Roman beschreibt: Mein Herz in zwei Welten.

Text und Foto: Kurt Schnidrig