Die süsse Versuchung

Wer hat’s erfunden? Die Schweizer! Dieser Spruch ist bereits legendär. Grandiose Ideen, Mut und Gründergeist zeichnen Schweizer Pioniere, Erfinder und Unternehmer vorab aus dem 19. Jahrhundert aus. Da ist zum Beispiel der hübsche und verwöhnte Berner Patriziersohn Rudolf Lindt, der eigentlich nur den Mädchen imponieren wollte, und dabei so ganz nebenbei die beste Schokolade der Welt erfand. Die wundersame Geschichte hat kürzlich der Schriftsteller Alex Capus in seinem Buch „Patriarchen“ aufgewärmt. Die Geschichten rund um den Schokoladenfabrikanten Rudolf Lindt sind derart von Legenden umrankt, dass heute jede und jeder die paar wenigen gesicherten Fakten nach eigenem gusto ausschmücken kann.

Im Berner Mattenquartier hatte alles begonnen. Rudolf Lindt kaufte zwei brandgeschädigte Fabriken. Dort stellte er eine alte Reibmaschine auf und einen Zylinderröster, um nach einem althergebrachten Verfahren das Kakaofett aus den Bohnen zu pressen. Was von den Bohnen übrigblieb, zerrieb er zu einem Pulver. Daraufhin verrührte er das Kakaofett und das Bohnenpulver zu einer zähen Paste, die er ausgiebig zuckerte. Das Resultat war einfach nur ein Graus! Die bröckelige Masse fühlte sich im Mund an, als hätte man die „Schokolade“ mit Schwemmsand aus der Aare gestreckt. Nein, mit dieser Möchtegern-Schokolade konnte Rudolf, der Schönling, die Berner Mädchen in keiner Art und Weise entzücken. Die alte Röstmaschine erhitzte die Bohnen zu wenig, so dass diese nicht richtig austrocknen konnten und zu einer fettigen Schmiere wurden. Mutig stopfte Lindt das traurige Ergebnis seiner Bemühungen in Formen. Eklig und abstossend war nun aber, dass diese fettige, in Formen gepresste Schokoladen-Schmiere, sich schon bald mit einem grauen Belag überzog, der an Schimmel erinnerte. Da war Rodolphe Lindt ratlos. Und dies, obschon er sich inzwischen nicht mehr Rudolf oder Rüedu rufen liess, sondern sich nun nobler, edler und weltmännischer „Rodolphe Lindt fils“ nannte.

Dank einem erotischen Abenteuer? Hat Rodolphe Lindt das Geheimrezept für die beste Schokolade einem erotischen Abenteuer zu verdanken? Wie Rodolphe Lindt aus der unappetitlichen Masse die beste Schokolade der Welt zauberte, das ist bis heute nicht restlos geklärt. Viele Legenden ranken sich um das Geheimrezept, über das Rodolphe Lindt plötzlich verfügte. Nur hinter vorgehaltener Hand berichten Forscher heute, wie sich alles zugetragen haben könnte. Also, unter uns gesagt, es könnte sich alles folgendermassen ereignet haben: Der hübsche Rudolf war ein Mädchenschwarm. Mit der Monogamie stand er auf Kriegsfuss. Er war ein Dandy. Ein Dandy ist in neudeutscher Übersetzung ein Playboy. Und wie das bei Dandys und Playboys eben so üblich ist, verbringen diese das Wochenende nicht lesend zu Hause oder betend in der Kirche. Nein, Dandys und Playboys lieben die galanten Abenteuer, und dies besonders am Wochenende. Ein galantes Abenteuer? Der Duden übersetzt „galant“ mit „ein Liebeserlebnis betreffend“, „amourös“. Also, der hübsche Rudolf war an einem Wochenende während drei Tagen so „galant“. Nun, was für die Schokolade wichtig ist, das ist einzig die Tatsache, dass Rudolf an einem Freitag – wohl mit Schmetterlingen im Bauch – die von einem Wasserrad betriebene Rührmaschine abzustellen vergessen hatte, bevor er… na eben. Bevor er zu einem galanten Abenteuer aufbrach.

Schokolade mit Liebe gemacht. Auf den Punkt gebracht: Rudolf Lindt schaffte es, zugleich Liebe und Schokolade zu machen. Dass dabei die beste Schokolade der Welt herauskam, ist aber dann doch wohl einem glücklichen Zufall zu verdanken. Rekapitulieren wir also. Rudolf hatte (der Schmetterlinge im Bauch wegen) vergessen, die Rührmaschine abzustellen. Weil er (des galanten Abenteuers wegen) nun drei Tage lang „weg“ war, wurde die Schokoladenmasse drei Tage und drei Nächte lang ununterbrochen gerührt. Als Rodolphe am Montagmorgen in seine Fabrik zurückkehrte, da fand er in der Rührmaschine eine wunderbare, samtene und glänzende Masse vor. Und als er die Schokolade in seinen Mund nahm, da zerging diese herrlich schmelzend auf der Zunge und entfaltete eine Fülle köstlicher Aromen.

Die „Chocolat fondant“ war erfunden! Rudolphe Lindt muss wohl in diesem Augenblick von Glückshormonen geflutet worden sein. Er hatte soeben die beste Schokolade der Welt erfunden. Dass man die Schokolade sehr, sehr lange rühren muss, das war das ganze Geheimnis. Zwanzig Jahre lang hütete Rodolphe Lindt dieses Geheimnis wie seinen Augapfel. Dabei war das alles doch ganz einfach: Während die Rührmaschine tagelang arbeitete, verflüchtigten sich die ekligen Bitterstoffe, das Wasser verdampfte, die unappetitlich graue Fettschicht verschwand, die einzelnen Zutaten gingen eine zart schmelzende Verbindung ein. Nur genug lange rühren! Et voilà! Mit diesem Rezept wurde Rodolphe Lindt ein reicher Mann.

Die süsseste Versuchung. Die Welt riss sich um die Lindt-Schokolade. Rodolphe Lindt hätte Fabriken aufstellen können nicht nur in Bern, sondern auch in Zürich, Basel, Lausanne, Genf und dann in ganz Europa. Er hätte Fabriken aufstellen können. Aber er wollte das nicht. Rodolphe Lindt verbrachte seine Zeit viel lieber mit galanten Abenteuern in eleganten Salons. Die Lindt-Schokolade fand entzückende Abnehmerinnen in den Berner und Neuenburger Töchterpensionaten. Dort warteten die Mädchen auf die süsseste Versuchung. Sie warteten auf Rodolphe Lindt und seine Schokolade.

Text und Foto: Kurt Schnidrig