Freilicht auf der Riederalp. Der letzte Sander von Oberried lockte ein kunterbuntes Völklein auf die Alp. Der Bruthitze des Tales entflohen, überkam uns alle schon bald das grosse Frieren. Aufgereiht auf einem Gerüst und eingehüllt in Militärdecken, kam dann jedoch so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl auf, fast wie damals in langen WK-Nächten im Militär. Wir freuten uns auf die Geschichte aus dem späten 16. Jahrhundert. Zwischen 1919 und 1929 hatte die Briger Hotelière und Schriftstellerin Catherine Bürcher-Cathrein einen Heimatroman verfasst, der nun als Grundlage für das Freilichtspiel dienen sollte. In Erwartung eines historisch-denkwürdigen Abends fieberten wir dem Beginn des Stückes entgegen.
Zwanghaft-ulkiger Einstieg. Wie war ich gespannt auf die Umsetzung und Inszenierung der historischen Stoffe! Um es gleich vorwegzunehmen: Das sehr dramatische und tragische Stück wurde mit zunehmender Dauer immer besser. Schade um den zwanghaft-ulkigen Einstieg. Es begann damit, dass ein Biker mit einem viel zu tief eingestellten Velosattel in die Szenerie hineinfuhr. Weitherum Kopfschütteln im Publikum. Einem bemitleidenswerten Gleitschirm-Piloten fehlte zwar die passende Startrampe, aber den Schirm kriegte er trotzdem irgendwie hoch. Aber dann! Fast schon unterste Schublade das blöd-blökende Telefon des genervten Brunnenmeisters. Bitte nicht mehr davon! Mein Stossgebet wurde erhört. Zum Glück.
Schulmeisterliche Demonstration. Wenn ich an Schauspielen und Theaterstücken etwas partout nicht ausstehen kann, dann ist es dieses schulmeisterliche „Theater des Zeigens“. Jaja, das kennen wir doch alle. Ein simpler Rohrbruch lässt die Bewohner eines Wohnhauses ausser Rand und Band geraten. Der eine möchte duschen, die andere ihre Haare waschen. Ohne Wasser geht alles den Bach runter, nichts funktioniert. Wie wichtig Wasser und Niederschlag ist, das haben wir alle in diesem gnadenlosen Hitzesommer, in dieser höllischen Bruthitze der vergangenen Wochen und Tage bis zur Erschöpfung erlebt. Also bitte. Lasst das Volk sich seinen Teil denken, liebe Theaterschaffende. Statt der zwanghaft-ulkig-schulmeisterlichen Einleitung hätte man sich dringend eine hilfreiche Exposition gewünscht in ein historisches Stück, das bis ins Jahr 1928 zurückreicht.
Eine hilfreiche Exposition erläutert dem Publikum alle Momente, die zum Verständnis einer zeitlich zurückliegenden Ausganssituation beitragen. Dazu gehören Faktoren wie die Grundstimmung, die Konflikte und die Zustände der damaligen Zeit. Die Exposition informiert auch über die Zeit und die Personen des Werkes. Im vorliegenden Fall also über das Werk, die Intention und die Personen des Heimatromans von Catherine Bürcher-Cathrein. Eine wirkungsvolle Einführung des Zuschauers ist verlangt. Gut, im Freilichtspiel auf der Riederalp wurde die Exposition im Verlaufe des Abends dann doch noch stückweise nachgeliefert, immerhin.
Grossartige Steigerung. Doch dann wurde ich von der spannenden und dramatischen Geschichte in den Bann gezogen. Dies dank auch wunderbarer schauspielerischer Leistungen. Jenno, der Sander, und die um ihn sich sorgende Anna Zumstein – welch emotional bewegende Szenen! Ganz grosses Theater! Um das Liebespaar herum gruppierten sich herausragende Gestalten. Schauspielerisches Talent offenbarte insbesondere Jörg Berchtold, der sich als Spassmacher, als aufwieglerischer Mazzenträger und als Jäger gleich in verschiedenen Rollen profilierte. Doch warum nur verliebt sich die Lena, Annas Freundin, in diesen abstossenden Josi Anderhalden? Die seltsame Beziehungsgeschichte steht bereits im originalen Heimatroman von Catherine Bürcher-Cathrein. Die Intention der Autorin war es wohl, die Intrigen und die Feindschaft zwischen den Dörflern aus Greich und Oberried zu motivieren. Oder andersum: Die Liebe geht nun mal eigene Wege.
Starke Szenen und mitreissendes Spiel. Wie der schmierige Anton Zen Rossen sich um Anna bemüht, wie aber die standhafte Anna um Jenno kämpft – das hat uns fast von den Sitzen gerissen. Und manch eine(r) aus dem Publikum musste sich heimlich und verstohlen eine Träne aus dem Gesicht wischen. Dass der Landesfürst, Bischof Wilhelm von Sion, das Todesurteil noch würde kippen können, das allerdings hat jede und jeder im Publikum vorausgesehen. Das frühe Auftauchen des Landesfürsten hat der Geschichte etwas die Spannung genommen.
Gekonnt eingefügte Nebenschauplätze. Als Jenno nicht mehr unter der Dorfgemeinschaft weilt, da eröffnen sich äusserst effektvolle Nebenschauplätze. Dazu gehört etwa der prozessionsähnliche Gratzug, der als Zeichen aus dem Jenseits viel Schlimmes erahnen lässt. Der Anblick der zwei Kreuze, die am Ende des Zuges mitgetragen wurden, jagte uns einen kalten Schauer über den Rücken. Zwei Mutige haben mit ihrem Leben bezahlt, flüsterte meine Begleiterin entsetzt. In Anlehnung an die Walliser Gratzug-Sagen ist dies ein sehr glaubwürdiger und wirkungsvoller Regie-Streich.
Berührt und bewegt fahren wir in Dunkelheit und Finsternis mit der Gondel zu Tale. Ausgeliefert zwischen steilen Bergflanken und einem sternenklaren Himmelszelt steigt in mir alles hoch, was das Freilichtspiel in mir freigesetzt hat: Das Kräftespiel zwischen Leben und Tod, die Tragik, der Kampf ums Überleben, das Streben nach Recht und Gerechtigkeit, die gegenseitige Unterstützung, und, vor allem, die alles überstrahlende Liebe zueinander.
Text und Foto: Kurt Schnidrig